Gelsenkirchen. Nach Rumänien und Bulgarien sollen auch Balkan-Staaten wie Kosovo und Albanien der EU beitreten. Das sorgt in Gelsenkirchen für „Zukunftsängste“.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat erst jüngst wieder bei seinem Besuch in Albanien für die Aufnahme sechs weiterer Balkan-Staaten in die Europäische Union geworben. Seiner Vorstellung nach sollen nicht nur Serbien und Kosovo, zwischen denen es zuletzt wieder zu deutlichen Spannungen kam, sondern auch Albanien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina und Nordmazedonien bald der Staatengemeinschaft angehören – eine Vision, wegen der sich in Gelsenkirchen Skepsis breitmacht.
Zu sehr sorgt man sich an der Emscher darum, dass wieder eine große Gruppe armutsbetroffener Migranten in die Stadt kommen könnte und sich die speziellen Probleme mit der Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien in Gelsenkirchen weiter verschärfen könnten. Darauf machte auch jüngst Stadträtin Anne Heselhaus aufmerksam, als sie bei der Vorstellung des neuen Integrationsprojektes der Stadt („Vielfalt lebendig gestalten“) anmerkte, „dass wir in Gelsenkirchen nicht einschätzen können, wie es mit der EU-Erweiterung weitergeht und welche Zuwanderung wir dann zu erwarten haben.“
Markus Töns (SPD): Fehler dürfen sich nicht wiederholen
„Ich kann die Zukunftsangst in Gelsenkirchen verstehen“, sagt Markus Töns, SPD-Politiker und direkt gewählter Bundestagsabgeordneter aus der Stadt, zu den möglichen Folgen weiterer EU-Beitritte. Sollten die sechs Westbalkan-Staaten tatsächlich Teil der Union werden, dürfe man nicht dieselben Fehler machen wie damals bei dem EU-Beitritt von Rumänien und Bulgarien, so der Europa-Politiker. Eine solche „Naivität“ wie 2007 dürfe man sich nicht mehr erlauben. „Das wäre politisches Harakiri.“
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Damals habe man keine Vereinbarungen getroffen, um die Armutsmigration zu regeln. „Man hätte die Länder verpflichten müssen, sich um ihre Minderheiten zu kümmern. Beide Staaten nehmen bis heute aber kein Geld aus der EU an, um die Integration der Roma zu fördern“, betont Töns. Dabei sei ein erheblicher Teil der südosteuropäischen Migranten in Gelsenkirchen jener Bevölkerungsgruppe zuzuordnen, die „auf jahrhundertelange Rechtlosigkeit und massive Diskriminierung“ zurückblicken und auch heute in „fürchterlichen Verhältnissen“ leben muss, wie Südost-Experte Prof. Ulf Brunnbauer 2021 im Gespräch mit der WAZ betonte.
Zukunft der EU: Gelsenkirchener Europa-Politiker plädiert für „Reform vor Erweiterung“
Ex-Kanzlerin Merkel (CDU) hatte den Prozess zur Aufnahme der Westbalkan-Staaten vor knapp einem Jahrzehnt intensiviert, als sie den „Berliner Prozess“ startete. Zu Ende gebracht werden dürfe dieser allerdings nur, wenn sich die EU vorerst selbst reformiert, meint Gelsenkirchener Markus Töns. „Die Europäische Union ist in keinem guten Zustand. Jetzt muss es erst einmal heißen: Reform vor Erweiterung.“
Wichtig sei es beispielsweise, die Einstimmigkeitsverpflichtung aufzuheben und zu Mehrheitsentscheidungen zu kommen. Töns: „Wir kommen politisch nicht weiter, wenn der ‘kleine Diktator’ jedes Mal ,Nein’ sagt.“ So hatte der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán zu verschiedenen Anlässen genannt.
Scholz’ Ziel, die sechs Westbalkan-Staaten in die Europäische Union zu integrieren, sei grundsätzlich zwar unterstützenswert – „denn, wenn man so viele Jahre mit diesen Ländern verhandelt, dann haben sie irgendwann auch das Recht, dabei zu sein“. Aber die Erweiterung der Union könne erst mit neuen EU-Verträgen ausgestaltet werden, so Töns. Der Beitrittsprozess werde also noch dauern, der Sozialdemokrat spricht von mindestens fünf bis zehn Jahren.
Pull-Faktoren für Armutsmigration in Gelsenkirchen: Hoffen auf die Zukunftspartnerschaft
Bis die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die für die massenhafte Armutsmigration nach Gelsenkirchen sorgte, dann auch für die sechs Balkan-Staaten gilt, könnten darüber hinaus noch mal weitere sieben Jahre ins Land ziehen. Für Bulgarien und Rumänien, die der EU am 1. Januar 2007 beitraten, wurde der europäische Arbeitsmarkt schrittweise geöffnet. Die EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit galt dann erst ab 2014 komplett – womit die Probleme in Gelsenkirchen so richtig begannen.
Mit der „Zukunftspartnerschaft“, für die Gelsenkirchen am Donnerstag (19. Oktober) den Förderbescheid bekommen wird, sollen die Probleme jetzt konkret angegangen werden und mit Unterstützung von Land und Bund Anziehungsfaktoren für Armutsmigration beseitigt werden, indem 3000 Wohneinheiten, darunter 500 in Problemimmobilien, vom Markt genommen werden sollen. „Wenn die Zahlen stimmen, die man aus dem Bauministerium hört, dann gehe ich davon aus, dass wir in zehn Jahren tatsächlich eine andere Stadt haben“, sagt Markus Töns. So könne Gelsenkirchen auch standhafter werden, was mögliche Migrationsfolgen durch die fortschreitende EU-Erweiterung angehe.