Gelsenkirchen/Ruhrgebiet. Vor zehn Jahren endete das Kulturhauptstadtjahr Ruhr2010. Was in Gelsenkirchen 2020 noch davon zu spüren ist und wie es weitergehen sollte.
Vor zehn Jahren feierte das Ruhrgebiet sich ein Jahr lang als gemeinsame Kulturhauptstadt Europas unter dem Motto „Ruhr2010“. Was ist davon geblieben und wie soll es mit dem Kulturgebiet Ruhrgebiet in Gelsenkirchen weitergehen? Wir fragten die heutige Kulturdezernentin Gelsenkirchens, Annette Berg, und den damaligen Dezernenten, Manfred Beck.
Was hat Sie von den vielen Events der Ruhr2010 am meisten beeindruckt?
Annette Berg: Die Großprojekte „Schachtzeichen“, das „Stillleben“ auf der A 40 und der „Day of Song“ haben mich besonders beeindruckt.
Manfred Beck: Da war zunächst die Eröffnungsveranstaltung unter widrigsten Umständen (Schneeregen) Open Air auf Zollverein. Natürlich „Schachtzeichen“ (die großen gelben Ballons an ehemaligen Zechenstandorten), vom damaligen Gelsenkirchener Kulturamtsleiter Volker Bandelow initiiert, und die gigantische Feier für alle auf dem Ruhrschnellweg.
zollverein, ein wintermärchen
Was hat am nachhaltigsten in Gelsenkirchen gewirkt?
Manfred Beck: Für mich ist wichtig, dass viele Menschen damit konfrontiert waren, dass wir ein wichtiges Element des Ruhrgebiets sind. Das war für Kultureinrichtungen, Kulturschaffende, die Kulturverwaltung und für das Selbstbewusstsein der Bürger von großer Bedeutung. Als damaliger Chef der Kulturverwaltung, der ich die Bewerbung zur Kulturhauptstadt mit Oliver Scheydt mit angetrieben habe, schätze ich natürlich besonders die Kooperation der Ruhr-Kunstmuseen und die Zusammenarbeit der Anliegerkommunen und der Emschergenossenschaft beim Bemühen, den Rhein-Emscher-Kanal zu „bespielen“.
Annette Berg: Mehrere Projekte/Festivals, die in und für Ruhr2010 entstanden sind, sind heute noch Realität in Gelsenkirchen: Das Figurentheater-Festival, das Erzählfestival mit dem Consol-Theater, der Kulturkanal, die Teilnahme am „Mord am Hellweg“, das Consol-Projekt „Pottfiction“, „Day of Song“, der Zusammenschluss der Museen zu „Ruhr-Kunst-Museen“, die „Ruhr-Bühnen“ mit dem MiR. Letztlich sind auch die „Kreativ-Quartiere“ Folge von Ruhr2010. Damit hat Gelsenkirchen in Ückendorf langfristig wirksame Eckpfeiler in den Boden gerammt. Vielleicht hat die Ruhr2010 in Gelsenkirchen gar die nachhaltigste Wirkung aller Städte im Ruhrgebiet.
bei „pottfiction“ zeigen jugendliche eine bessere welt
Was hat am nachhaltigsten für das Ruhrgebiet gewirkt?
Annette Berg: Das Entscheidende ist das gewachsene Bewusstsein, eine gemeinsame Kulturregion zu sein. Es konnte ein Wir-Gefühl entstehen. Dies hat den Tourismus von innen und außen angekurbelt. Kulturverwaltungen haben erstmals gemeinsam für eine Idee gearbeitet. Das macht städteübergreifende Kooperationen möglicher. Neue Strukturen machen das Ruhrgebiet handlungsfähiger. Bis 2010 hatte der RVR offiziell keinen Auftrag zur Kulturarbeit. Jetzt hat er eine eigene Stabsstelle für Kultur. Die Ruhr-Tourismus-GmbH ist zur relevanten Größe geworden. Mit den „Urbanen Künsten“ hat die Kultur Ruhr eine wichtige neue Säule. Aktuell ist das Referat Kultur an einem europaweiten Projekt beteiligt, das Kulturhauptstädte mit Hilfe der Kreativwirtschaft für eine besondere Form des Tourismus qualifizieren will.
Manfred Beck: Wir haben Europa und der Welt gezeigt, dass nicht nur Strukturwandel und soziale Probleme für unsere Region kennzeichnend sind, sondern Kreativität und kulturelles Schaffen hier eine „Hauptstadt“ haben. Das Ruhrgebiet hat einen riesigen Imagegewinn erfahren. Zudem hat die damalige Kooperation zwischen der Ruhr2010, dem RVR und den Kommunen dem Zusammenwachsen unserer Metropolregion einen Schub gegeben.Prächtig gedeckte Tische und subversive Ruhris
Was halten Sie von der Idee, als Reminiszenz an die Ruhr2010 einen Tag lang im Jahr 2020 die Kurt-Schumacher-Straße zu sperren für Feierangebot entlang der Straße wie beim Stillleben A 40?
Manfred Beck: Die Idee ist nett, ich bin aber skeptisch, ob sich dies realisieren lässt. Ich fände es gut, als Teil einer Klimakampagne den besonders belasteten Teil, nämlich die Schalker Meile, zu bespielen und ein Straßenfest mit (multi-)kulturellen Angeboten zu realisieren. Nicht als „Gedenkveranstaltung“, sondern um den Geist von Ruhr2010 für die Quartiersentwicklung in Schalke-Nord zu nutzen.
Annette Berg: Wenig. Eine Kopie kann selten so gut sein wie das Original. Das wirkt wie „was anderes ist uns nicht eingefallen“. Aber was noch wichtiger ist: „Stillleben auf der A 40“ wäre heute unter den geänderten sicherheitspolitischen Vorzeichen nicht mehr genehmigungsfähig. Ebenso wenig „Stillleben Kurt-Schumacher-Straße“. In einer Zeit, in der die Weihnachtsmärkte mit Durchfahrtsperren geschützt werden und in der regelmäßig zig verschiedene Bedrohungsszenarien berücksichtigt werden müssen, steht der Aufwand nicht mehr im Verhältnis zu dem „kulturpolitischen Ertrag“.
Hätten Sie eine andere Idee, wie man vor Ort an das Konzept von Ruhr2010 anknüpfen könnte?
Manfred Beck: Meines Erachtens lebt der Geist von Ruhr2010 weiter. Ich würde es darüber hinaus begrüßen, wenn RVR, Kultur Ruhr GmbH, Kultursekretariat oder wer auch immer, ein Festival der Freien Szene als Ergänzung zur Ruhrtriennale und den Ruhrfestspielen mit entsprechender Außenwirkung veranstalten könnte. In Gelsenkirchen könnte man zudem überlegen, ob man nicht in einer großen Kunstaktion die ehemaligen Zechenstandorte im Stadtgebiet künstlerisch interpretiert. Vielleicht sollte man aber gar nicht versuchen, an 2010 anzuknüpfen, weil wir – auch die Künste – uns heute mit anderen Fragen beschäftigen müssen. Gelsenkirchen und das Ruhrgebiet zukunftsfähig machen, partizipativ Visionen entwickeln, dies künstlerisch zu begleiten, das wäre es vielleicht. Kurz: ein Nachhaltigkeits-Festival im Sinne der UN-Ziele einer nachhaltigen Entwicklung.
Annette Berg: Man kann „vor Ort“ nicht an ein Konzept anknüpfen, das „für die Region“ entwickelt wurde. Wichtig ist, dass der Gedanke „Wir sind eine Kulturregion“ weiterentwickelt und gelebt wird. Die Gelsenkirchener Kulturarbeit versteht sich als ein Teil der Region. Wir leben das in der Zusammenarbeit mit RVR, Urbanen Künsten Ruhr, ecce, und vielen mehr, die selbstverständlich das ganze Ruhrgebiet im Blick haben. Ich habe es immer begrüßt, dass Ruhr2010 kein „Event-Ereignis“ war, sondern ein Konzept der Nachhaltigkeit, des Strukturen-Bildens, der Bewusstseins-Veränderung verfolgte. Auf diesem Weg sollten wir unbedingt weiter gehen. Hier gibt es angesichts der großen Herausforderungen wie gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, Bildungsbenachteiligung, Ent-Demokratisierung sowie Kulturbrüchen wie Herabwürdigung noch viel zu tun.