Essen. Im Philippusstift Essen gibt es ein psychiatrisches Angebot für Heranwachsende. In Gesprächen stellen die Ärzte erschreckende Entwicklungen fest.

Sie schwanken zwischen Versagensangst und Größenwahn, plagen sich mit der großen Frage nach dem Sinn des Lebens: Als besonders fragil beschreibt Dr. Özge Pekdoğan Çağlar junge Menschen zwischen 18 und 25 Jahren. Leiden sie an ernsten psychischen Problem, landen sie in der Regel in der Erwachsenenpsychiatrie, die wenig auf sie eingestellt ist. Die Chefärztin der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin am Borbecker Philippusstift freut sich darum, dass es hier ein auf die verletzliche Zielgruppe zugeschnittenes Angebot gibt.

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Es ist die erste Transitionspsychiatrie in Essen, und der zungenbrecherische Name ist Programm: Transition stammt aus dem Lateinischen und steht für Übergang. Von der Schule in Ausbildung, Soziales Jahr, Jobben oder Studium, vom Elternhaus in die WG, von der Heimatstadt auf Weltreise. An Übergängen mangelt es in diesem Alter nicht, doch was für die einen nach Verheißung klingt, überfordert andere, macht ihnen Angst. So sehr, dass manche nicht mehr aus dem Haus gehen, und andere nicht mal das Bett verlassen: „Die bleiben monatelang im Kinderzimmer.“

Jugendliche kommen wochenlang nicht aus dem Bett

Sie und ihre Kollegen hätten in jüngster Zeit auffallend viele junge Frauen beobachtet, die sich völlig zurückziehen, nicht mehr zur Schule gehen, keine Freunde treffen, keine Pläne machen. „Sie wirken schwer depressiv und erfüllen gleichzeitig nicht die Kriterien einer Depression“, sagt die Psychiaterin. Mit einer anti-depressiven Behandlung erreiche man sie nicht. Unterbewusst schrecke manche wohl das hektische Leben ihrer Mütter zwischen Familie und Beruf ab, sie flüchteten in Resignation: „Man kann von einer Lebensverweigerung sprechen.“

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Als Fallbeispiel erzählt sie von Julia, 21 Jahre alt, der auf dem Weg zum Fachabi die vielen Fehlstunden im Weg stehen und das Unvermögen, morgens aus dem Bett zu kommen. Streit mit den Eltern, der Joint mit ihrem Freund, der neidvolle Blick auf Gleichaltrige, die vermeintlich so viel mehr erreicht haben – oder zumindest via Social Media diesen Eindruck verbreiten. Die Versatzstücke dürften viele junge Menschen kennen, doch einzelne finden nicht mehr heraus aus dem Gefühl von Sinnlosigkeit und fehlendem Antrieb. Bei Julia sind es Selbstverletzungen, die schließlich ihre Mutter alarmieren: Sie rät zur stationären Behandlung im Philippusstift, Julia stimmt zu und bekommt die Einweisung beim Hausarzt.

In der Erwachsenenpsychiatrie sei die Eigenmotivation zur Therapie zentral, bei Heranwachsenden seien es häufig die Eltern, die den Anstoß geben: „Du brauchst Hilfe.“ Meist sei den Betroffenen aber bewusst, dass sie nicht mit bloß mit Alltagsproblemen kämpfen. „Die sagen selbst: ,Bei mir ist es auffällig: Ich sitze nur noch am PC oder kiffe.“

Filip Sinadinovski Leitender Oberarzt am Philippusstift in Essen.

„Wenn sie von Familie und Freunden die Rückmeldung bekommen: „Du bist nicht mehr derjenige, den wir kennen“, ist das ein Warnzeichen.“

Filip Sinadinovski, Leitender Oberarzt in der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin des Philippusstifts in Essen-Borbeck

Sie könnten praktisch keiner normalen Verpflichtung – von Haarewaschen bis Schulbesuch – mehr nachkommen, die „Funktionalität“ sei ihnen abhanden gekommen, ergänzt Filip Sinadinovski, der als Leitender Oberarzt in der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin arbeitet. „Wenn sie von Familie und Freunden die Rückmeldung bekommen: ,Du bist nicht mehr derjenige, den wir kennen“, ist das ein Warnzeichen.“

Mit Sorge beobachten die Psychiater einen zunehmenden Cannabiskonsum bei Jugendlichen. Viele kiffen, um Schlafprobleme oder Stimmungsschwankungen zu bekämpfen; dabei erschwere die Droge die Schlaf- und Stimmungsregulation. Auch bestehe immer das Risiko, dass Cannabis eine Psychose erst auslöse. „Die Legalisierung war ein fataler Fehler. Wir haben eine Explosion an neuen Psychosen.“

Nur auf dem Papier erwachsen: Pubertät dauert bis Mitte 20

Blieben psychische Probleme – ob Angsterkrankung, Depression, Sucht oder emotionale Instabilität – unbehandelt, drohe eine Chronifizierung. Um das zu verhindern, werde in der Transitionspsychiatrie viel mehr erklärt, warum sie die Therapie brauchen und wie sie funktioniert. Auch wenn die Jugendlichen erstmal nicht aufstehen, Therapie-Termine versäumen. „Wir entwickeln gemeinsam mit ihnen ganz langsam eine Motivation. Das ist eine lange Arbeit, Beziehungsarbeit.“ Zum multiprofessionellen Team gehören daher auch Sozialpädagogen.

Psychiatrie für junge Erwachsene

In der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Essener Philippusstifts ist die erste Transitionspsychiatrie in der Stadt entstanden: Sie wendet sich an junge Erwachsene zwischen 18 und 25. Sie werden in ihrem mentalen und emotionalen Entwicklungsprozess therapeutisch ins Erwachsenenalter begleitet.

Für Jugendliche unter 18 ist die Kinder- und Jugendpsychiatrie zuständig. Während Psychiater und Therapeuten Jugendliche ambulant bis zum 21. Lebensjahr behandeln dürfen, fallen junge Menschen, die teilstationär oder stationär behandelt werden, mit Volljährigkeit in die Zuständigkeit der Erwachsenenpsychiatrie. Diese hat keinen pädagogischen, sondern lediglich einen psychiatrischen Auftrag. Das weitere Umfeld wie Schule und Freunde bezieht sie nicht ein; die Medikamente sind andere. Viele junge Patienten fallen daher aus der Behandlung; es droht eine Chronifizierung.

Die Transitionspsychiatrie geht auf diese „Schnittstellenproblematik“ ein und berücksichtigt die Reifungsprozesse der jungen Zielgruppe. Auf der Station E0 im Philippusstift stehen 20 Plätze in einem offenen, stationären, Behandlungssetting bereit. Die ersten Patienten werden seit November 2024 behandelt, die Eröffnungsfeier ist am 26. März 2025, um 15 Uhr. Schwerpunkte sind: Depressionen; Phobien, Zwänge, Störung der Geschlechtsidentität, Medienabhängigkeit und andere Süchte, Traumata, Borderline, ADHS, Belastungs-, Persönlichkeits- oder Essstörungen. Die Behandlungskosten trägt die Krankenkasse.

Kontakt per Mail an: ph-psychiatrie@contilia.de oder telefonisch über das Kliniksekretariat (Mo-Fr, 8-16.30 Uhr): 0201-6400-3401. In Notfällen: 0201-6400-1370.

Dieser pädagogische Ansatz spiegelt, dass die Patienten auf dem Papier erwachsen, oft emotional aber noch unreif sind, in der Persönlichkeitsentwicklung stecken. „Man geht davon aus, dass die Pubertät bis Mitte 20 dauert“, sagt Dr. Özge Pekdoğan Çağlar. Neben der Basis-Psychotherapie-Gruppe bekommen sie darum ein soziales Kompetenztraining und nehmen an einer Mediengruppe teil, die ihnen helfen soll, ihren Medienkonsum zu regulieren und die Mechanismen von Tiktok, Instagram & Co. zu verstehen. Viele träumten vom schnell verdienten Geld als Influencer und merken nicht, wie das Scrollen zur Sucht werde, wie Schönheitsideale sie unter Druck setzten.

Therapie, Sport und praktische Lebenshilfe für die jungen Patienten

Auf Medikamente wird möglichst verzichtet, im Mittelpunkt stehen Einzel- und Gruppentherapie. Dazu gibt es Sport, Freizeitangebote und praktische Lebenshilfe von Haushalts-Training bis Behördengang: „Die kennen sich mit vielen Dingen nicht aus: Wie beantragt man Bafög? Wie findet man Wohnung oder Ausbildungsplatz? Welche Rechte habe ich?“ Die geballte Orientierungslosigkeit steigere sich zur Angst: „Ich kann gar nicht alleine leben.“

Wenn die jungen Menschen nach einer durchschnittlichen Verweildauer von sechs bis acht Wochen entlassen werden, gibt man ihnen Anlaufstellen mit, vermittelt sie zu niedergelassenen Therapeuten. „Sie gehen“, formuliert die Psychiaterin vorsichtig, „mit einer gewissen Orientierung nach Hause“. Ins Leben.

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