Essen-Nord. Rainer Engelen besucht schwerkranke Menschen und leistet ihnen Gesellschaft. Ihm ist aufgefallen: Männer gehen anders mit dem Tod um als Frauen.

Mit einem Bergmann hat Rainer Engelen die Schächte unter Essen durchwandert. An dessen Bett sitzend, folgte er den Erzählungen durch eine ihm fremde Welt, erfuhr von der Flucht aus dem Sudetenland, und davon, wie der Mann als Waisenjunge bei einem bayerischen Bauern auf dem Feld schuftete, dann von seinen Geschwistern getrennt und zur Arbeit unter Tage nach Essen geschickt wurde. Kurz vor seinem nahenden Tod wollte der Mann lieber auf sein Leben blicken als auf das Ende.

Etwa eine bis zwei Stunden pro Woche verbringt Rainer Engelen, 63, mit Menschen, die nicht mehr viel Zeit haben. Sie sind schwerkrank, die medizinischen Möglichkeiten sind ausgeschöpft, ihr Tod ist meist eine Frage von Wochen oder Monaten.

Als Rentner wünschte sich der Essener eine sinnvolle Beschäftigung

In seinem Leben hat Rainer Engelen gelernt, sich selbst zurückzunehmen: Noch heute steht er nicht gern in der ersten Reihe. Doch durch den Umgang mit Sterbenden habe er gelernt, aus seiner Zurückhaltung auszubrechen: Manchmal müsse er zunächst von sich erzählen, so Engelen, um mit den Männern ein Gespräch zu beginnen, müsse Fragen stellen, um die Unterhaltung in Gang zu halten. „Früher hatte ich Schwierigkeiten damit, ich wollte nicht neugierig sein.“ Doch oft warte sein Gegenüber nur darauf, dass er frage – „und dann sprudeln die Antworten“. Natürlich gebe es bei seinen Besuchen auch die stillen Momente, „aber die sind nicht unangenehm“.

Zu seinem Ehrenamt kam Rainer Engelen über Umwege, den einen „Schlüsselmoment“ habe es nicht gegeben, sagt er. Schon während seines Berufslebens habe er gern mit Menschen gearbeitet, aber als Angestellter „im Leistungsbereich einer Krankenkasse“ viel zu wenig Zeit für ausführliche Gespräche gehabt: „Ich musste immer auf die Uhr schauen.“

Neuer Kurs für Ehrenamtliche

Der ambulante Hospizdienst Essen Nord bietet ab dem 22. März einen neuen Vorbereitungskurs zum ehrenamtlichen Hospizbegleiter an. Eine Anmeldung ist notwendig und bis etwa zwei Wochen vor Kursbeginn möglich. Der kostenfreie Kurs läuft über sechs Monate und findet an insgesamt zehn Samstagen statt. Kursort: Am Meybuschhof 40 in Essen-Katernberg. Jeder, der sich angesprochen fühle, ob jung oder alt, besonders gern Männer, solle sich melden, so Koordinatorin Barbara Djaja.

Die Hospizbegleiter, die das Ehrenamt antreten, werden nicht willkürlich zugeteilt: Der erste Kontakt erfolgt über Barbara Djaja, die die Familie ein- bis zweimal besucht und im Gespräch herauszufinden versucht, was sich der oder die Sterbende wünscht. Dann überlege sie, wer von den Ehrenamtlichen gut dazu passen könnte, so Djaja. Anfangs sei sie dann auch bei der Begleitung dabei, danach aber obliege es den Ehrenamtlichen, die Zeiten und Details mit den Familien zu vereinbaren.

Weitere Infos und Anmeldung: telefonisch unter 0176 20318887 oder per Mail an barbara.djaja@hospiz-essen.de oder jens.kloeckner@hospiz-essen.de

Als er dann in Rente ging, sei er, ganz „loriotmäßig“, erstmal zu Hause ein wenig seiner Frau auf die Nerven gefallen, bis ihm klar wurde, dass er eine neue Aufgabe brauchte. Also machte er sich auf die Suche, nahm Ehrenämter an, die ihm zwar gut gefielen, aber weniger gut in seine Zeitplanung passten – bis er auf einen Artikel zum ambulanten Hospizdienst Essen Nord stieß und schließlich an einem Kurs teilnahm.

Mit dem Ehrenamt füllte er nicht nur eine Lücke in seinem Leben, sondern auch beim ambulanten Hospizdienst, wo Männer in der Unterzahl sind. Doch sie seien wichtig für dieses Ehrenamt, erklärt die Koordinatorin Barbara Djaja: Wegen des anderen Blickwinkels und weil viele Männer sich in der Tat einen männlichen Begleiter wünschten. Und manchmal fühle sich auch die Ehefrau eines Schwerkranken, die sich mit Pflege und Hausarbeit abmühe, wohler, wenn statt einer womöglich jüngeren Frau ein Mann den Platz am Bett einnehme.

Gespräche drehen sich oft mehr um das Leben als ums Sterben

Familienmitglieder und Bekannte seien von der Wahl seiner neuen Aufgabe erstaunt gewesen, erzählt Engelen: „Du bist doch viel zu sensibel dafür“, hätten sie gesagt. Und er darauf: „Gerade deshalb kann ich das.“ Doch natürlich habe er zunächst Sorge gehabt, der Aufgabe nicht gewachsen zu sein. „Ich habe mich am Anfang immer gefragt: ‚Mache ich das richtig?‘“

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Der erste Mann, den er auf dem Weg in den Tod begleitet hat, war drei Jahre jünger als er. Schwierig sei diese Situation gewesen, sagt Engelen: „Ich komme da rein als jemand, dem es gut geht. Und er weiß, dass er nicht mehr lange zu leben hat.“ Doch darüber hätten sie dann gar nicht gesprochen, sondern über ganz andere Dinge – und Rainer Engelen merkte, wie gut das dem Mann tat. „Die Leute wissen ja, was Sache ist, aber sie wollen sich nicht ausmalen: ‚Was ist heute, was morgen?‘“ Nur einmal habe jemand mehr wissen wollen, habe Angst vor dem „Todeskampf“ gehabt. Rainer Engelen konnte ihn beruhigen: Mittlerweile hatte er genug Erfahrung mit der palliativen Versorgung gemacht, um ihm sagen zu können: „Alle, die ich bisher begleiten durfte, haben einen friedlichen Tod gehabt.“

„Ich komme da rein als jemand, dem es gut geht. Und er weiß, dass er nicht mehr lange zu leben hat.“

Rainer Engelen

Normalerweise aber drehen sich die Gespräche um Alltägliches und um das Leben. Einmal sei er versehentlich in einem falschen Garten gelandet, weil sich die beiden Nachbarhäuser so ähnlich waren. Als ihm sein Fehler auffiel, fühlte er sich verpflichtet, dem Mann, den er besuchte, davon zu erzählen – falls der Nachbar sich melden und von einer verdächtigen Person im Garten berichten würde. Er habe also geschildert, wie gleich alles ausgesehen habe: die Pflanzen, die Terrasse, der Rasen, der Holzstapel. Der schwerkranke Mann habe sich das eine Weile angehört, den Kopf über so viel vermeintliche Schusseligkeit geschüttelt und dann, voller Nachdruck, wissen wollen, ob sein Holzstapel denn größer sei als der des Nachbarn. „So sind Männer“, sagt Rainer Engelen.

Essener hat beobachtet: Frauen gehen anders mit dem Tod um als Männer

Diese Beobachtung hat er in der Folge immer wieder gemacht: Während viele Frauen sehr offen mit ihren Erkrankungen umgehen und direkt erzählen würden, „was sie haben, bei welchem Arzt sie gewesen sind, wo es wehtut und was die Freundin dazu sagt“, würden Männer oft nicht darüber sprechen wollen.

Gesprächsthemen hätten sich dennoch immer gefunden: Ein Elektriker erzählte ihm ausführlich von seiner Arbeit und erklärte ihm, dem handwerklich eher Unbegabten, wie er seine Küchenlampe anschließen solle. Ein Hobbygärtner gab ihm Tipps für den Schrebergarten. Einem Fußballfan hat Engelen aus Vereinszeitungen vorgelesen, und weil er sich ob seiner Wissenslücken unwohl fühlte, arbeitete er sich per App in die Tiefen des Fußballjargons ein.

Was ihm bei seiner Arbeit wichtig ist: eine „gewisse Heiterkeit“. Es werde tatsächlich, so unglaublich das klinge, auch viel gelacht. Auf die Uhr schaue er bei den Gesprächen nicht, obwohl feste Zeiten vereinbart sind. Wenn jemand reden wolle, lasse er ihn reden. So kam es, dass ihn ein Sterbender, der erzählte und erzählte und sich dabei offenbar prächtig amüsierte, ihn unvermittelt gefragt habe: „Hömma, haste eigentlich kein Zuhause mehr?“

Kurze Pause nach jeder Begleitung – um das Erlebte zu verarbeiten

Neun oder zehn Begleitungen habe er bisher gemacht, so Engelen, und immer würden ihm die Menschen ans Herz wachsen. Deshalb mache er nach dem Ende jeder Begleitung eine kurze Pause, „um das für mich zu verarbeiten“. Auch eine Supervision sei jederzeit möglich. Doch es belaste ihn nicht, wie er anfangs befürchtet habe. Stattdessen beeindrucke ihn immer wieder, wie offen und ehrlich die Menschen an ihrem Lebensende seien: „Sie lassen ihr Leben Revue passieren und ich bin derjenige, der dabei mitgenommen wird. Das bereichert und macht dankbar.“

In seiner Familie sei nie viel übers Sterben gesprochen worden, erzählt Rainer Engelen noch. Deshalb habe er als Junge seine Oma danach gefragt. Ihre Antwort: „Je älter du wirst, desto weniger Angst hast du.“ „Hoffentlich stimmt das“, habe er damals gedacht. Inzwischen hat sich die Aussage der Oma ein Stück weit bewahrheitet: Rainer Engelen hat wenig Angst, obwohl oder weil der Tod durch das Ehrenamt in seinem Leben ständig präsent ist. Nur einen Wunsch hat er: „Ich bin zwar gern für mich allein. Aber ich wünsche mir, dass auch mir jemand Gesellschaft leistet, wenn es so weit ist“.

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