Essen-Kettwig. Dafür haben die Eltern von Alina gekämpft: Der Bundestag ändert das Gesetz zur Gesundheitsversorgung. Was das für ihre behinderte Tochter bedeutet.

„Wir dachten noch, dass alles umsonst gewesen wäre und wir wieder von vorne anfangen müssen mit der neuen Regierung“, sagt Yvonne Latz aus Essen-Kettwig. Doch seit einigen Tagen sind sie und ihr Mann André „einfach nur glücklich und zufrieden“. Und das liegt an einer Gesetzesänderung, die das Leben ihrer behinderten Tochter Alina sehr erleichtern wird.

Im Bundestag wurde jetzt mit den Stimmen von SPD, Grünen und FDP das Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG) in veränderter Form gebilligt. Das Gesetz enthält im Kern den Wegfall der Honorarbudgets für Hausärzte. Aber es geht auch noch um viele weitere Regelungen im Gesundheitswesen. Eine davon betrifft die Versorgung von Menschen mit Behinderungen mit Hilfsmitteln. Die soll nämlich verbessert werden.

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Steter Kampf mit Krankenkasse und Sozialem Dienst

Demnach wird die Erforderlichkeit eines Hilfsmittels vermutet, wenn sich der Versicherte in einem sozialpädiatrischen Zentrum oder in einem medizinischen Behandlungszentrum für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen in Behandlung befindet und das Hilfsmittel von Ärzten empfohlen wird. Yvonne Laatz: „Das bedeutet im Falle von Alina zum Beispiel, dass ohne Probleme ein Rollstuhl über das SPZ (Sozialpädiatrisches Zentrum) beantragt wird und sofort ohne Widersprüche genehmigt wird.“

„Das bedeutet im Falle von Alina zum Beispiel, dass ohne Probleme ein Rollstuhl über das SPZ (Sozialpädiatrisches Zentrum) beantragt wird und sofort ohne Widersprüche genehmigt wird.“

Yvonne Laatz,
Mutter von Alina

Alina ist acht Jahre alt. Im Alter von einem Jahr wurde bei ihr ein seltener Gen-Defekt namens CDKL 5 diagnostiziert. Sie kann nicht laufen, sprechen, sehen. Das Mädchen ist geistig und körperlich behindert und hat zudem eine resistente Epilepsie, die mit Medikamenten in Schach gehalten werden muss. Das heißt, Alina ist zu hundert Prozent pflegebedürftig.

Jahrelang hat Alinas Familie einen Kampf um jedes noch so kleine Hilfsmittel, dass ihrem schwerkranken Kind das Leben erleichtert, führen müssen – mit den Krankenkassen und dem Medizinischen Dienst. Ein Kampf, der Yvonne und André Laatz oft an die Grenzen der physischen und psychischen Belastbarkeit geführt hat. Denn Anträge für Hilfsmittel und Therapien wurden regelmäßig erst mal abgelehnt. Mehrfach musste Widerspruch eingelegt werden, so die Erfahrung der Kettwiger Familie.

Mehr als 55.000 Menschen unterzeichneten die Online-Petition

Jetzt heißt es nach der Gesetzesänderung: Die Krankenkassen haben in Fällen wie Alinas Schwerbehinderung von der medizinischen Erforderlichkeit der beantragten Versorgung auszugehen. „So wie es all die Jahre eigentlich hätte laufen müssen“, sagt Yvonne Laatz.

Großen Anteil an diesem Sinneswandel der Politik hat eine Petition, die Yvonne Laatz im Jahr 2021 mit unterstützt hat. Mehr als 55.000 Menschen unterzeichneten diese Online-Petition, die von Carmen Lechleuthner aus Pfaffenhoffen gestartet wurde. Im Mai 2021 reichte die Petentin in Berlin das Ergebnis beim Petitionsausschuss des Bundestages ein. Ihre Petition richtete sich konkret gegen „die Blockade der Krankenkassen bei der Versorgung schwerst behinderter Kinder/Erwachsener“ und warb für mehr Chancengleichheit.

Vor dem Gebäude des Deutschen Bundestages in Berlin: Yvonne Laatz aus Essen machte 2021 mit Plakaten auf Missstände in der Behandlung von behinderten Kindern durch die Krankenkassen aufmerksam.
Vor dem Gebäude des Deutschen Bundestages in Berlin: Yvonne Laatz aus Essen machte 2021 mit Plakaten auf Missstände in der Behandlung von behinderten Kindern durch die Krankenkassen aufmerksam. © Laatz

Es sei ein Problem des Systems, stellten die Betroffenen damals fest: Ärztliche Therapien und Hilfsmittel würden vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen oft mit absurden Argumenten ausgehebelt. Familien mit schwer kranken oder behinderten Kindern erlebten belastende Auseinandersetzungen mit den Kostenträgern. Dadurch würden Therapieentscheidungen der behandelnden Ärzte ausgehebelt, dem Betroffenen vorenthalten oder unnötig verzögert. „Darauf verwendet man seine Energie. Dabei braucht unser Kind doch diese Energie“, ist Yvonne Laatz noch heute empört über dieses Vorgehen.

Die Lobbyarbeit geht für die Essenerin weiter

Mit Plakaten hatten sich die beiden Frauen und viele andere Betroffene damals vor dem Bundestag postiert. „Es hat fast fünf Jahre gebraucht, aber es hat sich gelohnt“, sagt die Essenerin erleichtert. Das sei vor allem das Verdienst von Carmen Lechleuthner, die als Ärztin immer wieder Fachgespräche geführt und für das Anliegen pflegender Angehöriger getrommelt habe.

Carmen Lechneuther durfte die Verabschiedung des Gesetzes im Bundestag live miterleben. „Wir haben mitgefiebert und freuen uns riesig, da es einen großen Schritt in die richtige Richtung geht“, betont die Kettwigerin. Und: „Es ist ein super Geburtstagsgeschenk nachträglich für Alina.“ Am 18. Januar ist sie acht Jahre alt geworden.

Carmen Lechneuther (4. v.l.) wurde mit ihrer Unterstützergruppe in Berlin von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (3. v.r.) begrüßt.
Carmen Lechneuther (4. v.l.) wurde mit ihrer Unterstützergruppe in Berlin von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (3. v.r.) begrüßt. © Lechneuther

Für Yvonne Laatz geht die Lobbyarbeit indes weiter. „Ich war noch bis vor kurzem im Vorstand beim MMB (Mobil mit Behinderung), bin aber aus zeitlichen Gründen und für die Familie zurückgetreten. Ich engagiere mich aber weiter als Mitglied im Verein ‘Wir pflegen’. Dort bin ich in einer Elterninitiativgruppe für behinderte Kinder.“

Denn die Bedarfe und Herausforderungen für pflegende Eltern bestehen weiter. „Wir haben durch unsere Petition gezeigt, dass Änderungen möglich sind. Wir haben uns öffentlich Gehör verschafft und man kennt uns inzwischen. Diese Sichtbarkeit ist wichtig.“ Die meisten Leute würden beim Thema Pflege an alte Leute denken, „aber wir Eltern behinderter Kindern pflegen nicht nur ein paar Jahre, sondern unser ganzes Leben. Die Pflege hört ja nicht mit 18 Jahren auf, sondern geht weiter.“ In diesem Sinne sei die Gesetzesänderung im Bundestag ein wichtiger Baustein, aber eben ein Baustein unter vielen.

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