Essen. Die dreijährige Alina aus Essen hat eine Behinderung. Dass sie bei einer Tagesmutter liebevoll betreut wird, erlebt ihre Familie als Glücksfall.
Alina ist dreieinhalb Jahre alt und geht seit zweieinhalb Jahren zur Tagesmutter. Was für tausende Essener Familien Alltag ist, nennt ihre Mutter Yvonne Laatz einen „Glückstreffer“. Denn was andere Kinder können, kann Alina nicht; sie hat eine schwere Behinderung. Nun will die CSE Tageseltern so fortbilden, dass Kinder mit Handicap nicht länger auf einen Glückstreffer angewiesen sind. „Auch sie haben einen Rechtsanspruch auf Betreuung“, sagt Inga Fabianski von der CSE. „Und der wird noch viel zu selten eingelöst.“
Von tausend Tagesmüttern und- vätern betreuen nur fünf auch Kinder mit Handicap
Das lässt sich an Zahlen ablesen: Unter den gut 1000 Tagespflegepersonen bei der CSE sind nur fünf inklusiv tätig, betreuen also auch Kinder mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen. Aktuell ist Alina das einzige Kind, das einen der Plätze wahrnimmt. Inga Fabianski erklärt: „Weil das Angebot nicht flächendeckend über Essen verteilt ist, passt es für viele Familien nicht.“ Die Wege sind oft zu lang.
Dabei ist die Betreuung für die Familien ein Geschenk, für das Yvonne Laatz bis heute dankbar ist. „Es ist für uns eine enorme Entlastung und so schön, dass Alina gut aufgehoben ist.“ Das Mädchen, das scheinbar gesund zur Welt kam, kann weder laufen noch sehen oder sprechen. Alina hat einen seltenen genetischen Defekt namens CDKL5, der erst mit gut einem Jahr diagnostiziert wurde.
Der erste Anfall des Babys machte der Mutter Angst
Bis dahin mussten die Eltern viele schlimme Nachrichten und Ungewissheit aushalten: Mit vier Monaten stellte sich zunächst heraus, dass Alina nichts sieht. Wenig später begannen epileptische Anfälle, die das Mädchen bis heute plagen. An guten Tagen sind es ein, zwei, es können aber auch 15 sein. „Beim ersten Anfall hatte ich einfach Angst“, erinnert sich Yvonne Laatz. Heute wisse sie, wie sie ihre Tochter beruhigen könne – und wann es kritisch wird, weil Alina zu lange keine Luft bekommt.
So sehr sich die Pharmareferentin gewünscht hatte, ein Jahr nach der Geburt des Kindes wieder arbeiten zu gehen, so sehr quälte sie und ihren Mann nun die Sorge: „Können wir unser Kind überhaupt jemals abgeben?“ Durch einen Zufall lernten sie Tagesmutter Joline Pöllmann kennen, die nicht nur gelernte Erzieherin und dreifache Mutter ist, sondern auch schon eine Fortbildung zur Inklusion gemacht hatte, um ein Kind mit Herzfehler betreuen zu können.
Die Tagesmutter trägt eine große Verantwortung
„Ich wollte das damals unbedingt versuchen, um der Familie zu helfen, dass ihr Kind aufwächst wie andere auch“, erzählt die 39-Jährige. „Aber es ist eine große Verantwortung.“ Darum sei für sie klar gewesen, dass sie sich fortbilden muss. Sie befasste sich mit Krankheitsbildern und Entwicklungsschritten, Medikamenten und Dokumentation. Und sie merkte, dass der ohnehin enge Kontakt zu den Eltern noch intensiver ist, wenn das Kind besonders verletzlich ist.
„Als ich Joline kennenlernte, hatte ich gleich ein gutes Gefühl, ihr Alina anzuvertrauen.“ Bis heute sind die beiden Frauen per WhatsApp in stetem Kontakt. Alina wiederum, die wegen der intensiveren Betreuung zwei Plätze in der Tagespflege belegt, wurde von den drei anderen Tageskindern unbefangen aufgenommen: „Die haben ihr die Flasche gebracht, ihr über den Kopf gestreichelt – da geht einem das Herz auf“, erzählt Yvonne Laatz.
Für die anderen Tageskinder gehört Alina einfach dazu
Die anderen Eltern freuten sich, dass ihre Kinder so selbstverständlich mit Alina umgingen, so nebenbei eine offene Haltung lernten. Das Mädchen kann nicht durch Haus und Garten toben, aber sie ist überall dabei, wenn gesungen, gespielt wird. Sie hat einen Sitzsack im Garten und sie hält viel Körperkontakt zu Joline Pöllmann, schmiegt sich an sie. Einschränkungen gebe es kaum: Nur den Wunsch vieler Eltern, selbst bei Wind und Wetter nach draußen zu gehen, kann die Tagesmutter nicht erfüllen: „Bei Minusgraden wird es zu kalt für Alina, die sich ja nicht bewegen kann.“ Ansonsten gehöre sie einfach dazu und werde von den anderen Kindern vermisst, wenn sie mal nicht da ist.
Kurs schult Tageseltern im Umgang mit Kindern mit Handicap
Die CSE (die gemeinsame Gesellschaft von Caritas und Sozialdienst katholischer Frauen Essen) bietet ab Ende September mit der Volkshochschule Essen einen Zertifikatskurs „Inklusion im Elementarbereich“ an. Tagesmütter und -väter werden in dem über ein Jahr laufenden, 156-stündigen Kurs befähigt, Kinder mit Behinderung zu betreuen. So soll die Betreuungslandschaft in Essen erweitert werden. Es geht um Formen von Behinderung, um Inklusion im umfassenden Sinn, um Menschenbilder und Wertschätzung sowie um eine vertrauensvolle Elternarbeit.
Die meisten Plätze sind vergeben, wer Interesse an der Fortbildung hat, wendet sich an Inga Fabianski von der CSE: 0201-31 93 75 229 oder per Mail Inga.Fabianski@cse.ruhr
Auch Yvonne Laatz hat die Tagesmutter Normalität zurückgegeben. Erst nutzte sie die Zeit, für den Papierkram, der mit Alinas Behinderung einhergeht, etwa den Kampf mit der Krankenkasse um einen Therapiestuhl oder ein barrierefreies Badezimmer. Irgendwann traute sie sich auch wieder zu arbeiten: „Es tat so gut, auch mal normale Gespräche zu führen. Vorher hatte ich immer nur das eine Thema Behinderung.“
Vor vier Monaten hat Alina eine Schwester bekommen
Im Moment arbeitet Yvonne Laatz nicht: Alina hat vor vier Monaten eine kleine Schwester bekommen, die keine Behinderung hat. Ein zweites Kind? Ohne Tagesmutter hätte sie sich nie zugetraut, dass sie das schafft. Zutrauen sollten übrigens auch Tageseltern haben, die Kinder mit Handicap betreuen wollen, sagt Joline Pöllmann: „Dann ist es eine schöne, dankbare Aufgabe!“