Essen. Yvonne und André Laatz haben eine schwerst behinderte Tochter. Dennoch haben sie ihr Glück gefunden. Wie sie anderen Eltern Mut machen wollen.
Mit sechs Monaten bekam Alina Krampfanfälle, immer und immer wieder. Acht Monate Klinikaufenthalt folgten und nach einem Jahr, im März 2018, kam dann die Diagnose: Sie hat CDKL5, einen äußerst seltenen Gen-Defekt. Für die Eltern ein absoluter Schock. Und doch meistert die Familie aus Kettwig seither das Leben mit der schwerst behinderten Tochter. Yvonne und André Laatz möchten nun anderen Eltern Mut machen und beim Weg durch die Institutionen weiterhelfen. Demnächst soll es einen Blog geben.
„Es ist sehr schlimm, sein Kind leiden zu sehen und nicht zu wissen, was los ist. Man ist einfach machtlos“, schildert Yvonne Laatz ihre Gefühle in der Zeit vor der Diagnose. „Dabei galt Alina nach der Geburt als gesundes Kind. Die Ärzte waren zunächst der Meinung, das wachse sich aus mit den Krampfanfällen.“ Heute ist klar: Die vierjährige Alina ist fast blind, wird nie laufen oder sprechen lernen können. Die resistente Epilepsie muss zudem immer wieder mit Medikamenten in Schach gehalten werden.
Eine Gen-Sequenzierung kostet gut 5000 Euro
„Wären wir von Anfang an gut informiert gewesen, hätte uns das vieles erspart“, sagt die 40-jährige Pharmareferentin. Doch Gen-Untersuchungen sind teuer „und die Ärzte weisen nicht unbedingt auf diese Möglichkeit hin“. Das Paar selbst erhielt über eine Facebook-Epilepsiegruppe von einer Humangenetikerin den Hinweis. Sie riet zu einer Gen-Sequenzierung. „Mit gut 5000 Euro mussten wir für die Untersuchung in Vorleistung treten, aber wir wollten endlich wissen, woran unsere Tochter leidet“, berichtet Yvonne Laatz.
Bei der sogenannten Gen-Panel-Untersuchung werden über 300 Gene getestet. Dabei stellte sich heraus, dass Alina einen angeborenen Defekt auf dem X-Chromosom hat. Das CDKL5-Gen ist dafür zuständig, die Informationen zu liefern, ein spezielles Protein zu bilden, das für das Gehirnwachstum nötig ist. Fehlt das, wächst das Gehirn nicht. „Das Wissen über seltene Erkrankungen und genetische Mutationen wie das CDKL5 ist teilweise auch bei Medizinern verblüffend gering. Sie müssen sich zumeist selbst fortbilden“, so die Kettwigerin.
Um Hilfsmittel und finanzielle Unterstützung müssen sie kämpfen
Auch der Medizinische Dienst und die Krankenkassen wüssten in der Regel über diese Erkrankung und die für diese Art der Behinderung nötigen Hilfsmittel wenig bis gar nichts, spricht André Laatz ein weiteres großes Problem an. „Anträge für Hilfsmittel und Therapien werden regelmäßig erst mal abgelehnt. Wir müssen mehrmals Widerspruch einlegen. Teilweise hat man das Gefühl, die Kassen stellen einem nur Hürden in den Weg.“ Das koste Nerven und Zeit, sagt der 50-Jährige, der ebenfalls als Pharmareferent tätig ist. „Da bekommen wir zum Beispiel einen Buggy zuerkannt, aber ohne Gurte und Sonnendach. Dass jemand wie Alina nicht selbstständig sitzen kann, blieb völlig außen vor. Ein Gurt sei nicht inklusive, hieß es.“
4000 Euro jährlich werden von den Kassen für Hilfsmittel oder für wohnverbessernde Maßnahmen bereitgestellt. „Allein ein Therapiestuhl kostet aber knappe 3800 Euro“, sagt Yvonne Laatz. Hinzu kommen Umbaumaßnahmen. „Wir haben das Haus in Kettwig vor Alinas Geburt gekauft. Niemand konnte ahnen, dass wir Rampen und breite Türen für einen Rollstuhl brauchen“, so André Laatz. Für alle Arbeiten, zum Beispiel im Badezimmer oder Flur, habe man erst einmal in Vorleistung treten müssen – und kämpfe bei der Krankenkasse nach wie vor um zumindest eine teilweise Übernahme der fünfstelligen Kosten.
Die Symptome können sehr unterschiedlich sein
Die Krankheit CDKL5 ist sehr selten. Weltweit sind nur circa 1500 betroffene Kinder registriert, davon rund 60 in Deutschland. Die Symptome sind unterschiedlich , die Schwere der Ausprägung sehr individuell. Daher kann auch wenig über die Lebenserwartung der Kinder gesagt werden.
Häufige Anzeichen sind: epileptische Anfälle in den ersten acht Lebensmonaten, infantile Spasmen, viele verschiedene Epilepsieformen einschließlich Muskelzuckungen, Hand-Stereotypen (z.B. waschende Bewegungen), schwere globale Entwicklungsverzögerung, kortikale Sehbehinderung, geistiges und körperliches Zurückbleiben auf dem Stand eines Säuglings, nicht kauen können und Schlafstörungen.
Nützliche Links für Eltern sind: www.cdkl5-verein.de, www.cse.ruhr, www.sozialmedizinische-nachsorgebunterkreis-am-uk-essen.de, www.humangentik-wuppertal.de, www.openpetition.de/behinderung.de.
Facebookgruppen: Eltern von Kindern mit Entwicklungsstörungen oder seltenen Gendefekten; Hilfsmittel: aktiv gegen Schwierigkeiten bei notwendigen Genehmigungen der KK; Besondere Kinder und Ihre Eltern.
Auch beispielsweise Ergo- und Hippotherapie werden nur anteilig oder gar nicht von den Kassen übernommen, hat die Familie erfahren müssen. Da stoße wohl fast jede Familie sehr schnell an ihr finanzielles Limit. Aus diesem Grund hatte sich die Kettwigerin im November 2020 dazu durchgerungen, über www.gofundme.com/f/barrierefreiheit-fur-alina um Spenden zu bitten: „Anders geht es nicht.“
Im April 2020 kam die zweite Tochter zur Welt
Glück hat die Familie indes bei der Betreuung: Alina hat einen der raren Plätze bei einer integrativ arbeitenden Tagesmutter bekommen. Die positiven Erlebnisse, die Alina dort mit gesunden Kindern sammelt, hat das Paar ermutigt, ein weiteres Kind zu bekommen. „Natürlich waren wir besorgt und haben uns gefragt, ob es wieder zu einem Gen-Defekt kommen kann“, sagt André Laatz. „Aber wir sind das Wagnis eingegangen.“ Im April, mitten im ersten Lockdown, kam Celina zur Welt: kerngesund.
„Wir merken immer mehr, dass es die richtige Entscheidung war“, sagt Yvonne Laatz. „Celina ist ein Gewinn für uns alle. Alina hat ihre kleine Schwester direkt angenommen. Die beiden Mädchen kuscheln sich gern aneinander.“ Vielleicht, so die Hoffnung der Eltern, bekomme Alina Anregungen durch diesen besonderen Geschwister-Kontakt. „Es scheint, als reagiere sie inzwischen mehr auf unsere Worte“, sagt die Mutter.
Anderen Eltern behinderter Kinder Mut machen und sie unterstützen
„Mein Mann und ich haben uns am Anfang sehr, sehr schwer damit getan, weil die Behinderung von Alina kein leichtes Thema ist und wir alles erst verarbeiten mussten“, fährt sie fort. „Die anderen Mütter freuten sich halt über die ersten Schritte ihrer Kinder – wir planten unseren ersten Rollstuhl.“ Aber sie hätten gelernt, damit umzugehen und seien inzwischen sehr glücklich mit ihrer kleinen Familie. „Auch wenn wir wohl noch viele Kämpfe ausfechten müssen, um Alina ein gutes Leben bieten zu können.“
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Ihren Mut und ihre Zuversicht möchten die beiden Essener weitergeben, nicht nur über CDKL5 aufklären, sondern anderen Eltern behinderter Kinder auch Tipps an die Hand geben, wie und wo sie Unterstützung bekommen können. „Ich bin dabei, einen Blog zu erstellen“, sagt die 40-Jährige. Dort werde es ab dem Frühjahr Infos und Adressen sowie Ansprechpartner und weiterführende Links geben.