Essen. An den Feiertagen leiden viele Menschen besonders unter Einsamkeit und Schicksalsschlägen. Bei Ulrike dürfen sie sich alles von der Seele reden.

Ein Gebäude irgendwo in Essen, darin ein langer Flur, von dem mehrere Einzel-Büros abgehen, in denen immer jemand arbeitet: 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr ist die Telefonseelsorge erreichbar. Denn Sorgen, Ängste, Trauer oder Depressionen halten sich nicht an übliche Geschäftszeiten.

Heute früh ist Ulrike* im Dienst, ihre Schicht hat um 7 Uhr begonnen. Während andere sich noch einmal im warmen Bett umdrehen oder beim Familienfrühstück sitzen, hört sie Menschen zu, für die Weihnachten, die Feiertage und der Jahreswechsel alles andere als schön sind. Weil sie schwerkrank sind oder um einen geliebten Angehörigen trauern, weil sie unter familiären Konflikten zusammenzubrechen drohen, weil sie kaum Geld und Existenzängste haben, weil sie schrecklich einsam sind.

Essenerin arbeitet seit 24 Jahren neben dem Job für die Telefonseelsorge

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„Das Fest verdeutlicht vielen noch einmal, was es an Brüchen in ihrem Leben gegeben hat“, bilanziert Ulrike am späten Vormittag, nach ihrer Schicht. Konkreter wird sie nicht. Die Hilfesuchenden müssen darauf vertrauen können, dass ihre Geschichten die Räume der Telefonseelsorge nicht verlassen. Mit jemandem von außerhalb darüber zu sprechen, ist für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen daher absolut tabu. Nur untereinander würden sie sich austauschen, erklärt Ulrike, schon allein deshalb, weil einige Menschen regelmäßig anrufen und es hilfreich ist, wenn das Team dann schon Bescheid weiß. Deshalb finde nach jeder Schicht eine Art Übergabe statt. Doch der Austausch diene, wie die Supervision und die regelmäßigen Fortbildungen, auch dem Schutz der eigenen Psyche, sagt Ulrike: „Es ist wichtig, das Gehörte hierlassen zu können.“

Das Team der Telefonseelsorge bleibt grundsätzlich anonym: Die Anrufenden erfahren den Namen ihres Gesprächspartners oder ihrer Gesprächspartnerin nicht. Auch Ulrike heißt in Wirklichkeit anders. Die Frau mit dem warmen Lächeln ist Anfang 60, berufstätig und arbeitet seit 24 Jahren ehrenamtlich bei der Telefonseelsorge. Gab es Momente, in denen sie aufhören wollte? In denen die Schicksale der Menschen am Telefon schwerer wogen, als sie tragen und ertragen konnte? Sie zögert kurz, verneint dann aber entschieden. Es gebe schlimme Situationen, ja: Etwa wenn ein Mensch Suizidabsichten äußere und sie hoffen müsse, dass das Gespräch ihn dazu bewegen kann, andere Lösungen in Betracht zu ziehen.

Hilfe per Telefon und Mail

Die Telefonseelsorge ist das ganze Jahr über zu jeder Tages- und Nachtzeit besetzt. Der Anruf ist kostenlos: 0800 111 0 111 und 0800 111 0 222. Das Onlineangebot (Hilfe per Chat oder Mail) erreicht man unter: www.telefonseelsorge.de

Aktuell arbeiten über 100 Ehrenamtliche für die Essener Telefonseelsorge. Wer selbst mitarbeiten möchte, wird dafür umfassend ausgebildet. Die nächste Info-Veranstaltung ist für März geplant, der genaue Termin steht noch nicht fest. Auch vorab kann man sich bereits informieren, per Mail an info@telefonseelsorge-essen.de oder telefonisch unter 0201 7474 80.

Nicht alles lässt sich im Gespräch lösen, die Möglichkeiten am Telefon sind begrenzt. „Mein Job ist das Zuhören“, sagt Ulrike. Wenn nötig, verweise sie an weitere Anlaufstellen, doch die würden die meisten heute selbst ergoogeln. Es gehe bei ihrer Arbeit eher darum, dem Menschen „ein Ohr zu schenken“, ihn wertzuschätzen, ihn zu bestärken, also „auf seiner Seite zu stehen, wenn das vielleicht gerade niemand anders tut“. Im Schnitt dauert ein solches Gespräch 20 Minuten: „Wir gucken nur ganz kurz in ein Leben hinein“, betont Ulrike.

Die häufigsten Themen bei der Telefonseelsorge sind Einsamkeit und Isolation

Dabei erfährt sie immer nur das, was der Mensch am Telefon von sich preisgeben möchte, seine Sicht auf die Dinge, auch wenn der Konflikt noch andere Facetten hat. Niemals würde jemand gedrängt, mehr zu erzählen. Auch vermeiden die Mitarbeitenden, Handlungsanweisungen zu geben oder von eigenen Tiefschlägen zu berichten. Wenn der Anrufer das wolle, erklärt Ulrike, versuche sie, mit ihm gemeinsam seine Situation zu entwirren, nach dem Kern eines Problems zu suchen, „ein Packende zu finden“ – und so dazu beizutragen, dass eine Idee entsteht, wie es weitergehen könnte. Schließlich würden sich die Anrufenden oft in einer Lage befinden, aus der sie sich nicht aus eigener Kraft befreien könnten, in der auch niemand komme, um ihnen zu helfen.

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Am häufigsten gehe es in den Gesprächen um Einsamkeit und Isolation. Das zeigt auch die Statistik der Telefonseelsorge (Stand: 2023). Ein Großteil der Hilfesuchenden lebt allein, knapp 40 Prozent geben am Telefon an, unter psychischen Erkrankungen zu leiden. Der Mangel an Therapieplätzen mache sich deutlich bemerkbar, sagt Ulrike. Nach ihrer Einschätzung könnte oder müsste vielen Anrufenden psychotherapeutisch geholfen werden. Auch Armut sei ein wiederkehrendes Gesprächsthema: Wenn am Ende des Monats nichts vom Bürgergeld übrig bleibe und die Betroffenen nicht mehr wüssten, wie sie über die Runden kommen sollen.

Rund um die Weihnachtsfeiertage seien all diese Probleme, die die Menschen das ganze Jahr über begleiten, noch einmal stark verdichtet: durch die immensen Erwartungen an das Fest, die ungelösten Konflikte im Privaten, aber auch im Beruflichen. 12 Anrufe hat Ulrike in ihrer heutigen vierstündigen Schicht entgegengenommen: Einige hätten sich für die Hilfe im vergangenen Jahr bedanken wollen, sagt sie. Doch wie in jedem anderen Dienst habe es auch verzweifelte Anrufer gegeben.

Manchmal, gesteht sie, habe sie den Impuls, mehr zu tun: Da wünsche sie sich für einen Moment, einfach hingehen und helfen zu können, zum Beispiel wenn jemand vollkommen mittellos auf der Straße stehe und nicht weiter wisse. Doch sie habe gelernt, damit umzugehen: Sie konzentriere sich ganz darauf, den Menschen anzuhören und Hoffnung zu geben. „Wenn jemand am Anfang des Gesprächs sehr traurig ist und am Ende dann anders auf seine Situation blicken kann, dann ist das vielleicht nicht viel, aber es hat für den Moment geholfen.“

* Die Mitarbeitenden der Telefonseelsorge bleiben grundsätzlich anonym. Der Vorname Ulrike ist ein Pseudonym.

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