Essen. Bach hinter Gefängnismauern: Die Reihe „Philharmonie vor Ort“ kommt zum Publikum. Für viele Häftlinge der Essener JVA ist es eine ganz neue Erfahrung.
„O du Fröhliche“, singen sie zum Abschluss. Doch die „gnadenvolle Weihnachtszeit“ hat es nicht allzu leicht, durch die schweren Türen der Essener Justizvollzugsanstalt zu dringen. Keine Lichterketten, kein Tannengrün stimmt hier aufs Fest ein. Nur der dicke Tannenkranz unter der Decke der Gefängniskapelle weist darauf hin, dass der Advent auch hier angefangen hat.
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Für die rund 480 Insassen der JVA Essen wird es ein Fest ohne Familienessen, Weihnachtsmarktbesuch und Konzerte. Und doch ist es an diesem nassgrauen Montagabend plötzlich ein bisschen feierlich. Die Philharmonie Essen ist zu Gast und sorgt für einen besonderen Konzertabend.
Konzerte in Essener Seniorenheimen, in der Gesamtschule und im Hospiz
„Die Philharmonie soll für alle da sein“, sagt Philharmonie-Intendantin Marie-Babette Nierenz zur Begrüßung. Und dass das kein leeres Versprechen ist, davon können sich Essener in der Woche vom 9. bis 14. Dezember gleich mehrfach an ungewöhnlichen Auftrittsorten überzeugen. Im Alten- und Pflegeheim in Altendorf, im Steeler Hospiz, im Übergangswohnheim im Kloster Schuir und in der Gesamtschule Bockmühle gibt es Konzerte. Und eben in der Justizvollzugsanstalt Essen, wo auf den Holzstühlen an diesem Abend kaum ein Platz leer bleibt.
An Anmeldungen mangele es nicht, Angebote wie diese seien beliebt, erklärt JVA-Sprecher Marc Marin, der sich nicht zum ersten Mal über Besuch der Essener Theater und Philharmonie freut. Erst Ende Oktober waren das Aalto-Musiktheater und das Mannheimer Streichquartett im Rahmen der NRW-weiten „Knastkulturwoche“ zu Gast und hinterließen „Mozarts phonetischen Fingerabdruck“. Die musikalische Stunde in Gemeinschaft ist eine willkommene Abwechslung für die Häftlinge; trotz der rund 70 Freizeit- und Gruppenangeboten, die die JVA Essen den Insassen bietet, von Deutsch für Anfänger über Schach bis Didaktik und Malerei.
Aber nicht alle, die wollen, können am Abend auch dabei sein. „Nicht jeder ist so gemeinschaftsfähig“, erklärt Marin. Mitunter müsse auch darauf geachtet werden, dass sich Inhaftierte nicht im selben Raum über den Weg laufen. Knast-Konflikte. Eine gründliche Vorauswahl sei vor einem Konzert wie diesem deshalb immer nötig.
JVA Essen: Die Stimmung in der Gefängniskapelle ist erwartungsfroh
Nicht aufgeheizt, sondern erwartungsfroh aber ist Stimmung, als Margot Le Moine (Viola), Muzi Lyu (Violine) und Yiyang Zhao (Violincello) die Instrumente auspacken. Die drei Musikerinnen und Musiker sind Studierende der Folkwang Universität der Künste und spielen sonst mit renommierten Ensembles und auf internationalen Festivals. Eine Gefängniskapelle ist auch für sie ein ziemlich ungewohnter Ort.
Aber irgendwie überraschen sich an diesem Abend beide Seiten. Die Musiker mit ihren für manches Zuhörer-Ohr wohl ziemlich ungewohnten Klängen. Und das Publikum, das das Geschehen auf der kleinen Bühne gebannt und mucksmäuschenstill verfolgt. Dabei erweckt das Programm mit Schuberts Streichertrio B-Dur und Bachs Goldberg-Variationen nicht den Eindruck, als wolle man sich dem Publikum hier mit einem geschmeidigen Klassiker-Best-of anbiedern.
JVA Essen: Zum Abschied gibt es donnernden Applaus und ein großes Dankeschön
Nur Avantgarde-Altmeister György Kurtág fällt am Abend zugunsten eines Weihnachtslieder-Medleys aus. Der donnernde Applaus wirkt danach so aufrichtig dankbar wie der Handschlag, mit dem sich viele Inhaftierte am Ende noch von Künstlern und Veranstaltern verabschieden. „Schön, dass Sie da waren.“
Auch bei Karlgeorg Krüger kommt der Dank an. Der Essener FDP-Politiker hat die aktuelle „Philharmonie vor Ort“-Reihe finanziell möglich gemacht. Sponsoren, sagt Intendantin Nierenz, sind wichtig für die Reihe, die nicht aus dem laufenden Etat der Theater und Philharmonie getragen werden kann, aber auch in Zukunft fortgesetzt werden soll.
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Die Vor-Ort-Konzerte sollen neue Publikumsschichten erreichen und Besucher bestenfalls auch langfristig für das Haus gewinnen. Der erste Konzertbesuch nach einem „Philharmonie vor Ort“-Konzert ist deshalb frei. Und das Angebot trage auch bereits Früchte, berichtet Nierenz. Für die meisten JVA-Insassen dürfte ein Konzertbesuch in Freiheit freilich noch in weiter Ferne sein. Die Philharmonie Essen aber will auch in Zukunft wieder zu Besuch kommen. „Das wird immer ein Standort sein“, verspricht Marie Babette Nierenz, bevor es vorbei an massiv-verriegelten Zellentüren wieder hinaus geht ins weihnachtlich glitzernde Essen.
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