Essen-Rüttenscheid. Mehrere Hundert Männer verbüßen in der JVA Essen ihre Strafe oder warten auf ihren Prozess. Wie es hinter den Gefängnismauern aussieht.
Zur Pforte der Justizvollzugsanstalt Essen dringen laute Rufe vom Schulhof nebenan herüber; in einem kleinen Kreis von Menschen an der Krawehlstraße jedoch herrscht angespanntes Schweigen. Elf Leserinnen und Leser von WAZ und NRZ haben eine Führung durch das Innere der JVA gewonnen. Die Neugier ist geweckt, so ganz weiß aber niemand, was sie oder ihn hinter hohen Mauern, Gittern und Stacheldraht erwartet.
Der Essener „Knast“ liegt mitten im Wohngebiet, der Rüttenscheider Stern ist nur ein paar Straßenecken entfernt. An diesem Vormittag scheint das ganz normale Leben im Stadtteil zu pulsieren. Kinder und Jugendliche gehen zur Schule, Lieferwagen fahren vorbei, Menschen kaufen im Supermarkt ein oder eilen in Richtung Straßenbahn. Doch mittendrin, hinter den Mauern der JVA, müssen hunderte Männer auf all diese Freiheiten verzichten. Ihr Leben spielt sich zwischen Zelle und Innenhof ab, sie warten in Untersuchungshaft auf ihren Gerichtsprozess oder verbüßen eine Strafe.
Die JVA Essen in Zahlen
1910 ist die Justizvollzugsanstalt (JVA) Essen gebaut worden.
528 Insassen hätten theoretisch Platz, am Tag des Besuchs waren rund 400 Plätze belegt. Unter anderem wegen der Corona-Pandemie ist keine Vollauslastung möglich, denn es braucht Räume für die Quarantäne, die für Neuzugänge verpflichtend ist.
40 Prozent der Insassen sind Untersuchungshäftlinge. Sie warten noch auf ihren Gerichtsprozess, somit gilt zunächst die Unschuldsvermutung. Der Hauptgrund für eine Inhaftierung zu einem solchen Zeitpunkt sind Flucht- und Verdunkelungsgefahr.
60 Prozent der Inhaftierten sind verurteilte Straftäter, in Essen sind es ausschließlich erwachsene Männer, die Freiheitsstrafen von maximal 30 Monaten verbüßen, oftmals sind es kürzere Zeiträume.
21 Jahre alt sind die jüngsten Häftlinge, der aktuell älteste ist 70 Jahre alt. Es haben sogar schon einmal Vater und Sohn gleichzeitig in der JVA Essen eingesessen.
250 Mitarbeitende hat die JVA, im Vollzugsdienst liegt der Frauenanteil derzeit bei etwa 22 Prozent.
Dass sie dabei so sehr umringt sind vom Leben, liegt an der Geschichte der JVA Essen. Sie wurde bereits 1910 erbaut, als eine solche Lage mitten in der Stadt noch üblich war. Neuere Haftanstalten liegen meist weiter außerhalb. In Essen gibt es durch die dichte Bebauung rundherum so gut wie keine Erweiterungskapazität mehr für das Gefängnis. Jeder Quadratmeter will gut genutzt sein. Praktisch ist hier immerhin: In direkter Nachbarschaft befinden sich auch Amts- und Landgericht, ein unterirdischer Tunnel verbindet Gericht und JVA miteinander.
Leserinnen und Leser bekommen Einblicke in die JVA Essen
Den Tunnel werden die Gäste heute nicht zu sehen bekommen, dafür aber viel mehr, als sie zu diesem Zeitpunkt erwarten. In kleinen Grüppchen geht es zuerst durch die Sicherheitskontrolle. Personalausweis und Impfausweis vorzeigen, sämtliche Wertsachen verschließen. In einem innen liegenden Raum versammeln sich die Teilnehmenden nach und nach wieder. „Es ist irgendwie eine bedrückende Atmosphäre“, sagt ein Teilnehmer. „Draußen scheint die Sonne und hier drinnen nur das Neonlicht.“
Das ändert sich schnell wieder – gemeinsam mit JVA-Pressesprecher Marc Marin geht es hinaus in einen der Innenhöfe. Hier startet er seine mehrstündige Tour, auf der er den Gästen klar machen möchte, dass der Gefängnis-Alltag wenig mit den Klischees zu tun hat, die in Fernsehserien vermittelt werden.
Einige Eindrücke decken sich dann aber doch irgendwie mit den Bildern aus dem Fernsehen: Vom Hof aus sind die doppelt vergitterten Fenster der Zellen zu sehen, die in korrektem Amtsdeutsch Hafträume heißen.
Unter jedem Fenster ist die Nummer des Raums aufgemalt – sollte es einen Alarm geben, kann so schnell und präzise weitergegeben werden, um welche Zelle es sich handelt. Hinter den Gittern hängen Kleidungsstücke und Handtücher zum Trocknen, Tetrapacks sind zu erkennen, an manchen Fenstern sitzt ein Insasse und aus einem ist ein Radio zu hören. Was auch den Klischees entspricht: Die Zellen haben schwere Türen mit Metallbeschlag, die Trakte sind kreuzweise angeordnet, im Inneren sind sie über lange Gänge und vergitterte Treppenhäuser aus Metall verbunden. Wer hier entlang geht, kann sich direkt an ein Filmset versetzt fühlen.
Die Arbeit in der JVA Essen ist ein Spagat zwischen Distanz und Vertrauen
Dass der Alltag hier ansonsten aber wenig mit „Hinter Gittern“ oder „Prison Break“ zu tun hat, davon kann JVA-Sprecher Marin die Besucherinnen und Besucher dann doch noch überzeugen. So macht er klar, dass die Arbeit mit den Häftlingen ein Spagat ist: Einerseits sei es die Aufgabe, die Allgemeinheit vor eventuellen weiteren Straftaten eines Insassen zu schützen und den Strafvollzug durchzusetzen. Andererseits sei die Resozialisierung die wichtigste Aufgabe. „Die Strafe ist der Freiheitsentzug“, sagt Marin. „Sobald jemand hier ist, geht es darum, was danach kommt.“ Eine Balance zwischen professioneller Distanz und einem Vertrauensverhältnis sei gefragt.
Vielen der Inhaftierten falle es leichter, sich Beamtinnen und Beamten in ziviler Kleidung zu öffnen, etwa beim Sport, in der Küche oder gegenüber einem der beiden Pfarrer. Aufgrund ihres Alters verfügt die JVA Essen über eine eigene kleine Kapelle, in der Gottesdienste und Proben des Gefangenenchores stattfinden. So mancher habe in der Zeit seiner Haft tatsächlich zum Glauben gefunden, einige setzten sich mit der Bibel auseinander. Es sind auch andere Religionen vertreten, die genauso wie Nationalitäten, Sprachen, politische Konflikte und kulturelle Besonderheiten bei der Unterbringung zu beachten seien, erklärt Marin. Größtenteils beherbergt das Gebäude Einzelhafträume, es gibt aber auch einige Gruppenhafträume.
Blick in eine Zelle der JVA Essen
In eine Einzelzelle dürfen die Gäste an diesem Tag einen Blick werfen: Auf knapp zehn Quadratmetern finden ein schmales Bett, Tisch, Stuhl, Schrank, Waschbecken und Toilette Platz. Wer dem Haftraum selbst kurz entkommen möchte, kann dazu eine Stunde Hofgang pro Tag nutzen. Wer kooperiert, kann auch Freizeitangebote wahrnehmen wie Sport, Musik, Schach, Gesprächsrunden oder den Gottesdienst. Abends gibt es den so genannten „Umschluss“, dann können Inhaftierte sich in einem Haftraum treffen, um gemeinsam fernzusehen, sich zu unterhalten oder Karten zu spielen.
Außerdem besteht die Möglichkeit, in der JVA zu arbeiten – 45 Prozent der Inhaftierten tun das, zum Beispiel in der Werkstatt, im Reinigungsdienst oder in der Küche – für Letzteres kommen allerdings nur wenige in Frage, denn dort ist beim Umgang mit scharfen Messern viel Vertrauen gefragt. Morgens, mittags und abends wird das Essen ausgeteilt, gegessen wird im Haftraum, dabei kommen nur stumpfe Messer zum Einsatz.
Die Arbeit gibt den Gefangenen einerseits eine Struktur, andererseits können sie so Geld ansparen für die erste Zeit nach der Entlassung und bekommen einen Teil als Taschengeld ausgezahlt. Wer Kaffee, Schokolade oder Tabak möchte, muss sich dieses Extra erst verdienen. „Die wenigsten erhalten finanzielle Unterstützung von zu Hause“, sagt Marin. Besuch bekommen immerhin einige, es besteht ein Anrecht auf mindestens eine Stunde Besuchszeit alle 14 Tage.
Für die Gruppe aus Leserinnen und Lesern endet die Besuchszeit nach dem Rundgang und einem Gespräch mit JVA-Leiterin Beate Wandelt. Das bedrückende Gefühl habe nachgelassen, erklären mehrere aus der Gruppe. Sie seien erstaunt gewesen, wie individuell die Beamtinnen und Beamten auf die Inhaftierten zugingen und wie freundlich zum Beispiel der Besuchsraum gestaltet sei. Als sie dann wieder auf die Krawehlstraße hinaustreten und die Gefängnistür hinter ihnen zufällt, ist dennoch Erleichterung zu spüren.