Essen. „Nathan der Weise“ ist wegen seines Religionskonflikts mehr als nur Schulstoff. Wie Karsten Dahlems frische Version in der Essener Casa aussieht.

Manchem hat es schon die Ferien verdorben. Andere loben das kluge Stück, klagen aber über die Verständlichkeit. Wie Schülerinnen und Schüler vor und nach ihm wurde er von Lessings komplexem Klassiker „Nathan der Weise“ im Deutschunterricht gequält. Dennoch hat sich Regisseur Karsten Dahlem des Aufklärungsdramas von 1779 angenommen und zeigt die frische Version in der Casa. Seit seiner rasanten Inszenierung von Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ ist er für die Erneuerung alter Stoffe bekannt.

Als Zehnjähriger hat er Nachrichten zum Nahost-Konflikt gesehen und seine Mutter gefragt: „Wann hört das auf?“ „Nie“, hat sie gesagt. Daran erinnert sich Karsten Dahlem noch gut. Und so erscheint Lessings dramatisches Gedicht um die Weltreligionen immer zeitgemäß - ob angesichts brennender Synagogen im Nationalsozialismus oder heute vor dem Hintergrund religiös motivierter Kriege und Terroranschläge. „Der 11. September oder die Poller auf den Weihnachtsmärkten erinnern daran“, meint Dahlem.

Ein Plädoyer für religiöse Toleranz im bedrohten Waffenstillstand

„Nathan der Weise“ ist im Jerusalem des 12. Jahrhunderts angesiedelt in einem vom Glaubenskrieg bedrohten Waffenstillstand. Der Jude Nathan findet sein Haus nach einer Reise abgebrannt vor und seine Adoptivtochter Recha, gerettet von einem christlichen Tempelherrn, der sich in sie verliebt. Damals ein „No-Go“. Keiner darf wissen, dass Nathan mit ihr eine Christin beherbergt. Auch dass ihn der muslimische Herrscher Saladin nach der wahren Religion fragt, bedeutet vermintes Gelände. Der kluge Mann plädiert mit der Ringparabel für Toleranz, bietet ihm seine Freundschaft an und finanzielle Hilfe. Für das fünfaktige Ideendrama, im Blankvers mit komischen und tragischen Zügen blumig erzählt, ist ein gutes Ende angedacht.

Nach der Zerstörung von Nathans Haus: Der rettende Tempelherr (Alexey Ekimov, vorne links) mit dem reichen Juden Nathan, Saladins Schwester Sittah (Sven Seeburg, hinten links) und die gerettete Recha (Luzie Juckenburg) in Karsten Dahlems Inszenierung „Nathan der Weise
Nach der Zerstörung von Nathans Haus: Der rettende Tempelherr (Alexey Ekimov, vorne links) mit dem reichen Juden Nathan, Saladins Schwester Sittah (Sven Seeburg, hinten links) und die gerettete Recha (Luzie Juckenburg) in Karsten Dahlems Inszenierung „Nathan der Weise" (Probenfoto) in der Casa des Schauspiel Essen. Foto: Martin Kaufhold © Unbekannt | Martin Kaufhold

„Lessing kann man so nicht mehr darstellen“, befindet Karsten Dahlem, der frei mit dem Stoff umgegangen ist. „Ich finde ,Nathan’ massiv aktuell und versuche, den modern zu erzählen“. Die alte Sprache bleibt erhalten. Er lässt sie so sprechen, dass sie sehr direkt klingt und fügt heutige Kommentare hinzu. „Die Schauspielerinnen und Schauspieler verhandeln in einem Stuhlkreis zentrale Themen des Stückes wie Familie, Glaube, Krieg oder Hass. Dies geschieht zunächst über Texte, die im Probenprozess entstanden sind. Schon bald switchen sie in den Originaltext oder Fragmente daraus und übernehmen nach und nach ihre Rollen“, erklärt der Regisseur. Da bei ihm Emotionen stets großgeschrieben werden, will er die hier eher klein angedachte Liebesgeschichte „groß ziehen“ und den Sehnsüchten der Beteiligten Raum geben.

Geschlechtertausch in der Besetzung: Ines Krug verkörpert Nathan

Auf der karg eingerichteten Bühne (und Kostüme: Claudia Kalinski) verheißt eine Wolke, aus der bald Schutt und Asche regnet, nichts Gutes für die Figuren, die heutige Kleidung mit Hinweisen zur Religionszugehörigkeit tragen. Niemand soll, betont Dahlem, verkleidet aussehen. Ein tragendes Element in seinen Inszenierungen ist auch die Musik. Hajo Wiesemann hat sie zusammengestellt und nimmt Bezug auf das Geschehen mit einem Mix aus Songs von Robbie Williams, Habanot Nechama, Bill Withers oder M.I.A., mit dem Menschen ab 16 Jahren an die Gegenwart andocken können.

Dazu bietet auch die Besetzung mit gegensätzlichen Geschlechtern Gelegenheit. Ines Krug verkörpert den weisen Nathan, Sven Seeburg Saladins Schwester Sittah und Sabine Osthoff den Patriarchen. Es ist ein Bekenntnis zur Gleichberechtigung von Mann und Frau. „Wir leben in einer Zeit, in der die Frage nach männlich oder weiblich keine Rolle spielen soll. Wenn ein Mann Nathan spielen würde, ändert das für mich nichts am Stück“, so der 46-Jährige.

Das Ende bleibt bei ihm offen. Die Gruppe im Stuhlkreis findet ihren Frieden. Aber da draußen wird es weitergehen. „Ein Haus wird brennen, ein Auto in die Luft fliegen, ein Kampfjet fliegen. Sirenen ertönen, harte Einschläge. Die Realität holt uns ein“, sagt Karsten Dahlem - wie ihn der Satz seiner Mutter über den nie endenden Krieg im Nahen Osten.