Die neuen Lieder des jungen Werther sind kein romantischer Gruß aus dem bürgerlichen Salon. Sie haben Groove und Stromstärke und jene wüste Melancholie, die man im 21. Jahrhundert immer noch spürt, wenn die Liebe mal wieder Leiden schafft. Hach, Lotte, Universalbegehrte! Johann David Talinski hat ihr einen eigenen Song gewidmet, „Lottes Lied“.
Und irgendwie muss es da vor einem Jahr noch mal richtig geschnackelt haben, als Talinski Goethes Briefroman wieder mal zur Hand nahm und seine neuen Werther-Songs schrieb. Natürlich sind sie ein Teil der Inszenierung, die Karsten Dahlem ab dem 28. Februar in der Casa des Schauspiels Essen zeigt. Mit Johann David Talinski in der Titelrolle.
Weimar liegt am Meer, wenn Talinski zu schnacken beginnt. Wenn er will, ist der groß gewachsene 28-Jährige immer noch ein echtes Nordlicht, das von seiner Heimat Rendsburg mit sanftem Lächeln und gemischten Gefühlen erzählt. Schön-gemütlich und langweilig war es da. Zu gemütlich, als dass man sein Herz einfach so mirnixdirnix an eine Stadt wie Essen verliert. Zu langweilig, um seinen Leidenschaften ausreichend Raum geben zu können – der Musik und der Schauspielerei. Die Gitarre stand zu Hause damals einfach so rum und wartete irgendwann auf viele lange Garagen-Sessions mit Kumpel Fabian. Die Schauspielerei hat Talinski in Leipzig an der Hochschule für Musik und Theater studiert, mit Höhen und Tiefen aber am Ende doch mit einem festen Ziel, die Bühne nicht nur als Spielraum, sondern auch als Freiraum zu erobern. Als angstfreier Raum. Großer Traum von Freiheit!
Kindskopf und Liebes-Absolutist
Das klingt dann schon eher nach Werther, auch wenn dieser Gefühls-Extremist seinem jungen Kollegen Talinski gerade Kummer macht. Die letzten Tage vor der Generalprobe waren hart. Wer in diese große Liebesgeschichte eintaucht, der begegnet auch immer sich selber, seinen Ängsten, Sehnsüchten, Liebeskümmernissen. „Der ist wie so ein großes Kind, das eins werden will mit der Natur“, sagt Talinski über den Werther. Ein Kindskopf eben, Schwärmer, Liebes-Absolutist, Gefühls-Autist, Selbstmörder. Einer, dem man heute noch folgen kann?
Talinski, der mit wenigen, feinen Gesten staunende Großjungenhaftigkeit mit höchster Empfindsamkeit verbinden kann, ist ihm zumindest auf seinen Wanderungen, den Naturtrips gefolgt. Hat von seiner Rüttenscheider Wohnung aus viele lange Märsche durchs Essener Grün Richtung Baldeneysee gemacht, weil sich der Text dann so schön einlaufen lässt.
Immerhin ist er mit seinem Liebeswahn nicht allein auf der Bühne. Stefan Diekmann und Silvia Weiskopf haben als Albert und Lotte mehr Textanteil als in vielen anderen Werther-Adaption. Und dann sind da ja auch noch die „Werther-Boys“, die an seiner Seite aufspielen werden. Mit Musik fühlt sich Talinski immer ein bisschen ruhiger und kompletter. So hat es im Grillo schon gut mit „Kabale und Liebe“ angefangen, als er sich als „Ferdinand“ eine Gitarre unter den Arm klemmte, um seiner Luise einen hinreißende Schmachtsong zu schenken. Zu großen Gefühlen gehören bei Johann David Talinski eben immer auch die leisen Töne.