Essen. Lot Vekemans „Gift“ verfehlt seine Wirkung in Sophie Östrovskys Inszenierung nicht. Gefeierte Premiere in der Casa.
Nach „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ ein zweites gelungenes Beziehungsdrama am Schauspiel Essen: Ein Mann und eine Frau ohne Namen haben vor langer Zeit ein Kind verloren, dann sich selbst und dann einander. So bringt die niederländische Dramatikerin Lot Vekemans ihre Ehegeschichte „Gift“ auf den Punkt. Es ist ein starkes Stück über den Umgang mit dem Tod, das auch nach elf Jahren Existenz seine Gültigkeit und seine Kraft nicht verloren hat. Jungregisseurin Sophie Östrovsky hat mit ihrer Version in der Casa des Schauspiel Essen eine Farbe hinzugefügt.
Sie rennt bei einem „Sauwetter“ in hellgelbem Kostüm auf den aufgewölbten trockenen Parkplatz eines Friedhofs. Er wartet schon unten in einem Anzug derselben Farbe. Die beiden demonstrieren Optimismus und Gemeinsamkeit, die es trotz getrennter Leben und der Trauer in dieser Ex-Beziehung offenbar noch gibt.
Ein irrealer Ort, an dem sich die Figuren real abarbeiten müssen
Mit abstraktem Bühnenbild samt angelegter Fallhöhe schuf Ausstatterin Lena Natt für die Inszenierung Östrovskys einen irrealen Ort, an dem sich die Figuren auf ihre Weise sehr real abarbeiten müssen. Notwendig wäre das ebenso wenig gewesen wie die Symbolik (in der Kleidung oder den auseinanderlaufenden Parkplatzbegrenzungslinien). Denn in diesem klugen Text steckt bereits alles drin, was mitreißendes Theater neben versierten Schauspielern braucht.
Er und sie treffen sich zehn Jahre nach der Trennung, weil angeblich Gift im Boden des Friedhofs gefunden wurde und das Grab des Sohnes verlegt werden muss. So steht es in einem Brief, den sie ihm geschrieben hat. Doch Gift lässt sich nur zwischen zwei Menschen ausmachen, die über ihren Verlust nie gesprochen haben.
Er will einen Schlussstrich ziehen, sie will gerettet werden
Der Mann, der eine neue Familie an einem neuen Ort gegründet hat, und die Frau, die in ihrem Leiden feststeckt, wollen weit mehr klären als Formalitäten. Er will endlich einen Schlussstrich ziehen, sie will gerettet und glücklich werden. Doch zwischen ihnen machen sich zunächst nur Fragen und Vorwürfe über das Verlassen des anderen und die richtige oder falsche Art zu trauern breit.
Janina Sachau gibt der ewig trauernden Mutter etwas Hastiges. Die Worte sprudeln in überdrehter Tonlage angereichert mit Zynismus aus ihr heraus. Sven Seeburg agiert zurückhaltend – bis die gegenseitigen Verletzungen zu Ausbrüchen führen. Der Verzweiflung mit und ohne Tränen folgen Entschuldigungen. Ein Kreislauf, der Lösungen unmöglich erscheinen und doch Erinnerungen an den Tod des Kindes aufkeimen lässt. Den Schauspielern gelingt es, aus der in Corona-Zeiten unerlässlichen Distanz eine gefühlte Nähe zu erzeugen.
In den Momenten höchster Not gelingt Authentizität
In den Momenten höchster Not und tiefster Ruhe gelingt Authentizität. Nicht mit der Aussicht auf ein Wiedersehen oder eine Heilung der Wunden, aber auf Fortschritte, wie Laurie Anderson sie in „The Dream Before“ besingt. Nicht mit einem glücklichen, aber mit einem versöhnlichen Ende, das die Möglichkeit zulässt, nach dem Tod eines geliebten Menschen weiter leben zu können.
Wir schauen einem Paar beim Trauern zu. Und das ist erschreckend und berührend und erkenntnisreich zugleich. Mehr muss nicht sein. Langer, begeisterter Applaus.