Essen. Die Schäden der Silvester-Randale in Altenessen sind schon repariert, aber die Verletzungen sitzen tief. Auf Spurensuche im Stadtteil.

Die äußerlichen Wunden der Altenessener Silvester-Randale sind schon so gut wie verheilt: Die demolierte Bushaltestelle Altenessen-Mitte hat nagelneue Glasscheiben, die Abfallkörbe hängen wieder akkurat an ihren Plätzen und auch die zerdepperte Leuchtreklame hat der Glaser längst repariert. Von außen betrachtet, scheint die Welt in Altenessen wieder in Ordnung zu sein.

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Doch tief drin sieht es anders aus, da wühlen die Vorfälle die Menschen im Stadtteil immer noch auf. Obwohl in jener Nacht kein Mensch verletzt wird, sorgt Altenessen weit über die Stadt hinaus für grelle Schlagzeilen. Es ist das mit aggressivem Gangster-Rap unterlegte Skandal-Video, das die schockierende Wirkung des anscheinend inszenierten Wutausbruchs verstärkt hat. Denn der gerade einmal 29 Sekunden lange Clip verbreitet zugleich die verstörende Botschaft: Die Straße gehört uns, wir sind gefährlich und wir können tun und lassen, was wir wollen.

Warum tun sie das? "Die Leute haben Langeweile und sind bekloppt im Kopf"

Dass von Beginn an libanesisch-kurdisch-arabische Jugendliche aus dem Stadtteil unter Verdacht geraten sind, überrascht nicht. Die Razzia der Polizei in sechs Wohnungen und jüngst die Festnahme von fünf Verdächtigen (17 bis 20 Jahre) aus diesem Milieu untermauern diesen Tatverdacht. Doch was sind ihre Motive? Warum tun sie das?

"Die Leute haben Langeweile und sind bekloppt im Kopf", sagt Alaa El-Sayed, der Chef der Salahu d-Dîn-Moschee in Altenessen, eine der größten und einflussreichsten der Stadt. Die Zerstörungen, ergänzt er, seien das Werk einer Clique, die Radau mache und womöglich andere nachahme. "Das ist einfach nur ekelhaft."

El-Sayed geht davon aus, dass die Tatverdächtigen kein Klientel seiner Moschee sind. Trotzdem sehe sich der Kulturverein in der Verantwortung und bereite Aktionen vor. Schon nach der Massenschlägerei in Altenessen zwischen verfeindeten Syrern, Libanesen und Arabern habe der Imam eine Video-Botschaft auf Arabisch verbreitet mit der eindringlichen Bitte, endlich Ruhe zu bewahren und die Gesetze zu respektieren.

"Drehtür im Allee-Center blockieren, Leute anpöbeln und sie von hinten anspucken"

Alteingesessene Altenessener beobachten Fehlentwicklungen in der Parallelgesellschaft schon seit geraumer Zeit und mit zunehmender Sorge. Aber anstatt Probleme offen anzusprechen, werde "alles unter den Teppich gekehrt", klagt ein Geschäftsmann, der lieber anonym bleiben möchte. Auch die Justiz greife nicht durch.

Beinahe tagtäglich beobachte er, dass sich zwischen 15 und 16 Uhr eine Gruppe Jugendlicher treffe, "um Leute zu ärgern". Ihr "Revier" ist das kleine, aber belebte Quartier zwischen Allee-Center, Marktplatz, Alter Badeanstalt und Altenessener Straße. Die jüngsten seien gerade einmal zwölf oder dreizehn, aber selbst die hätten "große Fresse": "Mal wird die Drehtür im Center blockiert, mal werden Passanten angepöbelt oder sogar hinterrücks bespuckt." Die Polizei weiß von diesen Beschwerden.

Eine Verkäuferin im Allee-Center kennt dieses Gehabe, im großen Pulk aufzutreten, sehr genau. "Einzeln tun sie nichts, nur in der Gruppe fühlen sie sich stark." Der Altenessener Geschäftsmann berichtet, die Jugendlichen schon häufiger energisch zur Rede gestellt zu haben. Sogar mit Erfolg. Doch nicht jeder habe den Mut dazu. Wer signalisiere, sich Respektlosigkeiten und Provokationen nicht gefallen lassen zu wollen, dem werde knallhart gedroht: "Dann hole ich meine Cousins."

Wer die geilere Show abzieht: Geht's in den Videos um einen Wettbewerb? 

Auch an diesem kalten Januar-Nachmittag treffen um kurz nach 15 Uhr die ersten Kids ein, eine Viertelstunde später sind sie schon ein halbes Dutzend. Der Wortführer berichtet stolz, erst dreizehn zu sein und einer bekannten libanesischen Großfamilie anzugehören. Von der Silvester-Randale distanziert sich das Trio sofort, doch dabei fällt auf: Nicht nur über die Vorgänge jener Nacht scheinen die Drei bestens informiert zu sein, sondern auch über die jüngsten Aktionen der Polizei. "Da hinten war Razzia", sagt einer.

Obwohl sie schon in der dritten Generation in Essen leben, bleibt die Welt der libanesisch-kurdischen Großfamilien eine größtenteils abgeschottete Parallelgesellschaft. Eine Welt, in der Status-Symbole wie Protz-Limousinen und absurd aufgepumpte Oberarme ebenso viel zählen wie das Gefühl der Unantastbarkeit. Die verschiedenen Video-Clips der Essener Silvester-Nacht strotzen nur so vor Gewalt - und sind sich auch in ihrer Machart sehr ähnlich. Szenekenner vermuten inzwischen, dass es sich um eine Art Wettbewerb ("battle") handeln könnte etwa nach dem Motto: Wer zieht hier die geilere Show ab - die Altenessener oder die Jungs vom Wasserturm?

Ein privater Security-Mann sagt: "Altenessen ist ein gefährliches Pflaster"

Ob inszeniert oder nicht: Die spektakulären Hassausbrüche der Silvester-Nacht und die gewalttätigen, offen ausgetragenen Fehden zwischen arabischen Großfamilien beeinträchtigen das subjektive Sicherheitsgefühl in der Bürgerschaft. Die weit verbreitete "Null Respekt"-Haltung der Kids trifft denselben empfindlichen Nerv. Der Mitarbeiter eines privaten Sicherheitsunternehmens, der seinen Dienst an der Altenessener Straße versieht, sagt: "Altenessen ist ein gefährliches Pflaster, hier ist immer was los." Eine Einschätzung, die er auf Nachfrage mit dem "Einfluss der Clans" begründet. Die Statistiken der Polizei besagen übrigens das Gegenteil. Die Zahl der Straftaten habe sich halbiert, betont der Polizeichef.

Die Randale in Altenessen polarisiert nach wie vor die politischen Lager in Essen. Doch nach der ersten Empörungswelle wird zuletzt immer häufiger davor gewarnt, einen "singulären Vorfall" zu dramatisieren oder dabei ganz Altenessen schlecht zu machen. Peter-Arndt Wülfing etwa, der Vorsitzende der Interessengemeinschaft Altenessen, hält gar nichts davon, "die Bürger im Stadtteil zu stigmatisieren". Schließlich habe der Essener Norden trotz der schmerzhaften Krankenhaus-Schließungen so viele Pfunde, mit denen er wuchern könne: das neue Gesicht für die Zeche Carl, die künftige Gesamtschule an der Erbslöhstraße, das Modellprojekt Freiheit Emscher, das gut funktionierende Allee-Center. "Altenessen", beschwört Wülfing, "ist ein lebenswerter Stadtteil".

Altenessener warnen davor, die Bürger eines ganzen Stadtteils zu stigmatisieren

Nach der Unruhe herrscht inzwischen wieder Ruhe in Altenessen. Dazu trägt auch die deutlich erhöhte Präsenz der Ordnungskräfte bei. Zusätzlich zur Doppelstreife aus Ordnungsamt und Polizei patrouilliert neuerdings auch das von der Innenstadt abgezogene "City Team" durch Altenessen. Häufiger als sonst, so scheint es, kreuzen Streifenwagen durch die Straßen. "Ein gutes Zeichen", sagt der Geschäftsmann erleichtert.  

Die eigens eingesetzte Ermittlungskommission "Knaller" geht davon aus, dass es sich bei den fünf Tatverdächtigen um die Rädelsführer der Silvesternacht handelt. Die meisten seien bereits wegen kleinerer Delikte in Erscheinung getreten oder wegen länger zurückliegenden Verfehlungen. Dass sie in den Vernehmungen besonders mitteilsam sein werden, darf nicht erwartet werden. In ihrem Milieu gilt das Gesetz des Schweigens. Trotzdem bleibt die Polizei zuversichtlich, den Verdächtigen die Taten nachzuweisen zu können. Es geht um Landfriedensbruch und gemeinschädliche Sachbeschädigung. "Wir haben bereits sehr gute Ermittlungsergebnisse", sagt Polizeisprecher Christoph Wickhorst.

Polizei: Die meisten Tatverdächtigen sind bereits in Erscheinung getreten

"Eine kleine Clique zieht die ganze Community in den Abgrund", stellt Alaa El-Sayed aus der Moschee klar und kündigt eine klare Ansprache an. "Wir werden die richtigen Worte für sie finden, damit andere sie gar nicht erst als Vorbild nehmen."