Essen. Zollverein erinnert an das Schicksal der Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter in der NS-Diktatur. Wie ein Zeitzeuge das „Russenlager“ wahrnahm.
An sich begeht Zollverein den Unesco-Welterbe-Tag auf heitere Weise. Nicht so in diesem Jahr. Das Essener Welterbe erinnerte am Sonntag (6. Juni) an ein beklemmendes und finsteres Kapitel seiner 170-jährigen Geschichte: an das Schicksal der Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter, die während der NS-Diktatur zu Tausenden auf der Zeche schuften mussten.
Genau dort, wo früher eines von drei Barackenlagern stand, ist am Sonntagnachmittag eine Gedenktafel im Beisein zahlreicher Ehrengäste enthüllt worden, darunter auch Jakub Wawrzyniak, Generalkonsul der Republik Polen, Alexey Dronov, Generalkonsul der Russischen Föderation und Michelle Müntefering, Staatsministerin im Auswärtigen Amt. „Es geht um historische Gerechtigkeit. Es geht um das Anerkennen von Unrecht“, erklärte die Ministerin auf Zollverein. „Wer vergangene Schuld eingesteht, ist auch bereit, Verantwortung für Gegenwart und Zukunft zu übernehmen.“
Unter den Gästen gab es auch einen Zeitzeugen aus Katernberg. Heinrich Seidel, Jahrgang 1938, ist im Schatten von Zollverein aufgewachsen: in der Theobaldstraße 6a in Katernberg, einer Zechenkolonie, die von der Köln-Mindener-Straße abgeht. „Immer wenn ich mit dem Roller zu meiner Oma nach Stoppenberg fuhr, kam ich an dem Lager vorbei“, erinnert sich der 83-Jährige. Wo damals grüne Wiese längs der Bahnstrecke war, erhebt sich nun die imposante Koksofenbatterie der Kokerei Zollverein.
Der Stacheldraht und die Wachsoldaten, der Splittergraben und die Holzbaracken
Die Kindheitsbilder von damals haben sich mit fotografischer Präzision in das Gedächtnis des Esseners eingebrannt: da sind der zwei Meter hohe Stacheldrahtzaun und die grün uniformierten Wehrmachtssoldaten mit aufgepflanztem Gewehr, der Splittergraben und natürlich die Baracken aus Holz. Unvergesslich bleibt für Seidel das Geräusch der Holzpantinen, in denen die Gefangenen in Dreier- oder Vierer-Reihen morgens um halb sechs an seinem Elternhaus vorbei zur Schachtanlage 4/5/11 marschierten. „Dann machte es monoton klack, klack, klack.“
Anders als in den Vernichtungslagern der SS trugen die Männer und Frauen in den Zollverein-Lagern keine gestreifte Häftlingskleidung. Zwischen Juni 1940 und April 1945 waren zeitweilig bis zu 2700 Kriegsgefangene gleichzeitig auf den Zollverein-Schachtanlagen beschäftigt. Sie kamen hauptsächlich aus Frankreich und der früheren Sowjetunion, aber im Volksmund sei nur von den „Russenlagern“ die Rede gewesen.
Ein „Knusten Brot“ für einen Russen? Da ging der SA-Mann sofort dazwischen
Die menschenverachtende Rassen-Ideologie der Nazis stufte Russen als „Untermenschen“ ein. Auch außerhalb des „Russenlagers“ begegnete der kleine Heinrich in Katernberg Ost-Zwangsarbeitern – darunter auch Frauen und Kinder. Die meisten kamen aus der Ukraine, Polen und Weißrussland. Schlecht gekleidet seien sie gewesen, oft in Lumpen gehüllt und um Nahrung bettelnd. Als seine Mutter eines Tages einem kleinen Jungen, der jünger als ihr Heinrich war, einen „Knusten Brot“ zusteckte, sei ein SA-Mann aus der Nachbarschaft mit gezückter Pistole barsch dazwischen gegangen. Der hungernde Junge habe das geschenkte Brot sofort wieder abgeben müssen.
Hunderttausende Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene kamen in Hitler-Deutschland ums Leben: durch Krankheit und Erschöpfung, durch harte Arbeit oder eine Gewehrkugel. Doch selbst in der Tyrannei des NS-Regime gab es Momente der Menschlichkeit. Auch dies belegt Heinrich Seidel mit einer Begebenheit. Sein Vater – wie bereits der Großvater und später er selbst - sei Zollvereiner gewesen: beschäftigt im Kesselhaus der Zentralschachtanlage XII, in dem sich heute das Design-Museum befindet. Eines Tages habe sein Vater drei junge russische Kriegsgefangene mit nach Hause in die Theobaldstraße gebracht.
Kriegsgefangene reparieren das Radio der Seidels: „Sie waren warmherzige Männer“
Der Bewacher entfernte sich und so waren die Seidels mehrere Stunden mit den drei Fremden alleine. Eigentlich sollten sich die drei um den Garten kümmern, doch anscheinend besaßen sie keinen grünen Daumen. Dafür seien sie technisch derart begabt gewesen, dass sie im Wohnzimmer mit dem Lötkolben mit wenigen Handgriffen das kaputte Radio reparierten. Noch jahrelang danach habe es prima funktioniert. „Zwei von ihnen hießen Fedor und Panko“, erinnert sich Seidel, und fügt hinzu: „Sie waren freundliche und warmherzige Männer, die selbst Kinder hatten und vermutlich auch deshalb zu mir besonders herzlich waren.“
Der kleine Heinrich empfand die Kriegsgefangenen damals irgendwie exotisch. Absichtlich näherte er sich dem Lager, um beim Graspflücken für die Kaninchen ihren fremden Sprachen zu lauschen. Manchmal warfen sie ihm sogar Säcke voller Gras über den Stacheldrahtzaun rüber. „Einen gequälten Eindruck haben sie auf mich nicht gemacht.“ Einige Gefangene schufen sogar Gegenstände von bleibendem Wert: wie etwa filigran gefertigte Ringe und Broschen aus VA-Stahl oder Holzspielzeug wie die pickenden Hühner.
Als Zehnjähriger erfährt Heinrich Seidel in Amsterdam von der ermordeten Anne Frank
Ende 1944/Anfang 1945 verbreitete sich die Nachricht „Das Russenlager ist leer“ in Katernberg wie ein Lauffeuer. Während die Kinder das verbotene Gelände neugierig erkundeten, deckten sich die Väter reichlich mit Holz für die Stallungen ein. „In den Baracken und in Nissenhütten lebten später Flüchtlinge und Vertriebene“, berichtet Seidel.
Anlässlich der Enthüllung der Gedenktafel trat Heinrich Seidel ans Mikrofon, um über seine Erlebnisse und Erinnerungen zu berichten. 1948 habe er in Amsterdam als Zehnjähriger erfahren, dass das jüdische Mädchen Anne Frank im KZ Bergen-Belsen ermordet worden ist. Schon vorher habe sein Bruder ein Buch über Buchenwald mit nach Hause gebracht. Die Bilder zeigten die gleichen Baracken wie im „Russenlager“. Seidel gehört zu denen, die nach der Hitler-Barbarei gegen das Vergessen ankämpften. Er sagt: „Das Wissen darüber, wie mit den inhaftierten Menschen umgegangen wurde, ließ mich in den folgenden Jahrzehnten immer wieder erschrecken, wenn es hieß ,Davon haben wir nichts gewusst’.“
Karge Kost: 600 Gramm Brot, dünne Suppe, 15 Gramm Margarine
Das Schicksal der Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter war lange Zeit ein unbeschriebenes Blatt in der Geschichtsschreibung. Inzwischen ist dieses dunkle Kapitel auch für das Ruhrgebiet gründlich aufgearbeitet. Allein die RAG-Stiftung hat ein dreibändiges Werk zu dem Thema veröffentlicht. Historikerin Ute Durchholz, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Stiftung Zollverein, hat das Thema „Ausländereinsatz und Zwangsarbeit auf den Ruhrgebietszechen im Nationalsozialismus“ zusammen mit ihrem Kollegen Christoph Oboth ebenfalls erforscht.
Sie berichtet von körperlichen Misshandlungen und einer gegen Kriegsende zunehmenden Kranken- und Sterblichkeitsziffer bei sowjetischen Zwangsarbeitern – eine Folge der „miserablen Lebens- und Arbeitsbedingungen“. Am 1. Oktober 1943 teilte sich die Zollverein-Belegschaft auf in 5071 Mann Stammbelegschaft (ca. 70 Prozent) und 2242 Ausländer (ca. 30 Prozent), darunter Kriegsgefangene. In den Zechen seien unter Tage sogenannte „Russenstrebe“ gebildet worden. Als in „hohem Maße unzureichend“ wird die Ernährung geschildert. Die täglichen Rationen für Untertagearbeiter hätten sich auf 600 Gramm Brot, eine dünne Weißkohl- oder Runkelrübensuppe mit ungeschälten Kartoffeln, 15 Gramm Margarine, sowie wöchentlich kleine Mengen Marmelade und Zucker beschränkt. „Mangelhafte Hygiene führte zu gravierender Seuchengefahr. TBC, Fleckfieber, Typhus, Ruhr und offene Geschwüre waren weit verbreitet.“ Für kleinste Vergehen drohte die Todesstrafe.
Es gab aber auch Mitgefühl und Solidarität aufseiten der Arbeiter
Am 1. Januar 1944 seien von 133.000 zu den Ruhrgebietszechen deportierten Kriegsgefangenen 6521 (knapp fünf Prozent) verstorben und 28.000 (ca. 21 Prozent) galten als nicht mehr arbeitsfähig. Andererseits hält Ute Durchholz fest: „Aufseiten der Arbeiter herrschte hingegen in nicht wenigen Fällen mehr Mitgefühl und Solidarität.“ So behauptet der ehemalige ukrainische Zwangsarbeiter Andrej Wdiowitschenko, dass sich auf Zollverein mitunter regelrechte Freundschaften entwickelt hätten.