In den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs sollten 30 000 Menschen auf Zeche Gottessegen in Dortmund eingemauert werden, ein vereitelter Massenmord.

Tief im Süden Dortmunds, auf einem von wildwüchsiger Natur umrahmten Gelände zwischen Hagener Straße und der Autobahn Sauerlandlinie, stehen aufgepumpt riesige weiße Hüllen. Sie sehen wie längs durchgeschnittene Zeppeline aus. Es sind Traglufthallen. Ab Mai bieten sie 600 Flüchtlingen Raum. Deutschland zeigt sich an diesem Platz von einer sehr menschlichen Seite.

Doch alte Grundstücke können eine wechselvolle Geschichte haben. Der Boden ist verlassenes Bergbauterrain. Hier förderte die Zeche „Gottessegen“ bis zu ihrer Stilllegung 1962 Steinkohle und Eisenerz. Einiges erinnert an die Vergangenheit: Ein schwarzer Grubenwagen mit dem Gruß „Glück auf“, auch eine Behindertenwerkstatt, die den Namen der Schachtanlage in die Gegenwart trägt. Nichts hingegen deutet darauf hin, was vor jetzt 71 Jahren an dieser Stelle passieren sollte. Nur wenige Tage vor der Einnahme Dortmunds durch die 9. amerikanische Armee wollten Schergen Hitlers die Tiefen des Bergwerks zum Schauplatz einer der monströsesten und grausamsten Massenmorde der Zeitgeschichte machen.

Wenige Jahre nach Kriegsende haben Zeugen Staatsanwälten der jungen Bundesrepublik eine unglaubliche Geschichte erzählt: Der südwestfälische NSdAP-Gauleiter Albert Hoffmann habe im März 1945 befohlen, 7000 Kriegsgefangene und 23 000 Fremdarbeiter auf die untersten Sohlen der Gruben „Gottessegen“ und „Hansemann“ zu schaffen, um sie dort einzumauern und zu töten.

Aufsässiger Polizist

Der Befehl hat nie schriftlich vorgelegen. Das macht solche Berichte angreifbar. Doch eine indizkräftige Spur des barbarischen Plans führt nach Münster an den Bohlweg. Im Staatsarchiv von Nordrhein-Westfalen sind zwischen weißen Aktendeckeln der Sammlung Primavesi unter den Nummern 206 und 207 die Hinweise auf Albert Hoffmanns Anruf abgeheftet. Alexander Primavesi, ein aufsässiger Polizist der unmittelbaren Nachkriegszeit, hat sie bis kurz vor seinem Tod 1997 auf der Basis des Studiums von 8000 Seiten Personalakten der NS-Zeit zusammengestellt.

Ohne den Eifer des Kriminalhauptmeisters wäre wenig über das Vorhaben bekannt. „Man hat das Thema einfach unter den Teppich fallen lassen“, glaubt der Historiker Stefan Klemp, einer der wenigen, die die Ereignisse aufgearbeitet haben. Klemp ist Experte für die Erforschung nationalsozialistischen Unrechts. Er arbeitete für die Wiesenthal-Organisation Los Angeles und heute für die Stadt Dortmund. Dabei wäre der Befehl, einmal befolgt, „eines der größten Kriegsverbrechen gewesen“, sagt er. „Ich kenne kaum Vergleichbares“.

Frühjahr 1949. Der Zeuge, Polizeiinspektor August Petersen, diktiert dem Protokollanten einer staatsanwaltschaftlichen Vernehmung in den Block: „Es war am Nachmittag des 26. März 1945, einem Montag, als der Gauleiter Albert Hoffmann dem Dortmunder Kommandanten der Schutzpolizei, Wilhelm Stöwe, telefonisch einen Befehl übermittelte“. Gegen Stöwe wird zum Zeitpunkt von Petersens Aussage in anderer Sache ermittelt. Es geht um die Verantwortung für Erschießungen. Rombergpark. Bittermark. Solche einschlägigen Dortmunder Tatorte werden bald weltweit bekannt sein.

Bruchstückhaft kommt in den Befragungen der folgenden Wochen ans Tageslicht, was in den letzten Kriegstagen auch Thema in der Polizeizentrale an der Leipziger Straße war. „Fernmündlich wurde der Befehl oder die Anweisung gegeben, die Fremdarbeiter, welche sich in Dortmund aufhielten, auf den untersten Grubensohlen unterzubringen“, räumt Stöwe ein. Der Major Siffrin habe ihm den Anruf des Gauleiters übermittelt. Siffrin zeigt große Erinnerungslücken, aber „mir ist damals auch bekannt geworden, dass etwa 30 000 Fremdarbeiter auf untersten Grubensohlen untergebracht werden sollten“. Von ihrem geplanten „Einmauern“ erzählt der Polizeioberst Gonschorowski, von der geplanten „Vernichtung der Russen“ da unten wurde dem Direktor der Gelsenkirchner Bergwerks AG, Werner Haack, berichtet. „Das Ziel“, glaubt Historiker Klemp, „war eindeutig die Tötung. Ob durch Fluten der Sohlen, Sprengung oder den Entzug von Sauerstoff“.

Rücksichtsloses Vorgehen

Wer war dieser Albert Hoffmann, der der Polizei offenbar einen so grausamen Auftrag gegeben hat? Was hat ihn getrieben? Ohne Zweifel: Der Befehlsrahmen dafür kam aus Berlin. Er erlaubte, gegen Fremdarbeiter rücksichtslos vorzugehen. Aber Hitler hatte Hoffmann auch zum Reichsverteidigungskommissar West ernannt. Diese Funktion habe ihm die „volle, umfassende Staatsgewalt“ gegeben, berichtet später der Arnsberger Regierungspräsident Lothar Eickhoff.

Verlor der in die Enge getriebene hochrangige Nazi, der sich in einem Bunker auf dem Wittener Harkortberg über der Ruhr verschanzt hielt, alle Skrupel? Britische Truppen hatten bei Wesel den Rhein überquert, US-Einheiten rückten von Süden vor. In Essen und Bochum untergebrachte Fremdarbeiter der Ruhrwirtschaft und Kriegsgefangene aus dem Stalag 6d nahe der Westfalenhalle sollten ostwärts geschafft werden – bis ein gegenteiliger Befehl den Treck menschlichen Elends im überfüllten Straßennetz Dortmunds feststecken ließ. Möglich, dass ein Mix aus Hass und Furcht vor Rache der 30 000 Russen, Ukrainer und Polen zum Motiv für einen Massenmord-Befehl wurde.

Viele der unmittelbar am 26. März informierten Polizeioffiziere hat die Anordnung in Unruhe versetzt, glaubt Klemp. „Mulmig“ sei ihnen gewesen. War doch der Einzug der Sieger eine Frage von Tagen. Das „größte Kriegsverbrechen der Weltgeschichte“ drohe, wird Polizei-Oberstleutnant Ludovici in den Primavesi-Akten zitiert. Gonschorowski will laut seiner Aussage geglaubt haben: „Wenn das durchgeführt wird, können wir uns alle einen Strick kaufen“. Auch Stöwe gab am 20. Juli 1949 zu Protokoll: „Mir war von vorne herein klar, dass die Durchführung eines solchen Befehls das Schicksal eines wohl großen Teils der Einwohner Dortmunds besiegelt hätte“.

„Junge, lass das mal sein“

Zumindest die Haltungen von Stöwe und des Dortmunder Nazi-Polizeipräsidenten Altner bleiben bis heute zwielichtig – haben sie doch ihre Untergebenen, teils mehrfach, zum Leiter des Bergwerks „Gottessegen“, Heinrich Heimann, und zu Werner Haack von der Gelsenkirchner Bergwerks AG geschickt. Sie sollten herausfinden, ob und wie der Befehl umsetzbar war. Die Aktenlage zeigt: Erst dort sind die Polizisten auf die eigentlichen Helden der Geschichte getroffen. Die Erkundungen bei den Bergbau-Verantwortlichen bringen die Wende in das Drama.

Heimann wie Haack erklären den Transport der Fremdarbeiter auf die untersten Sohlen für wirtschaftlich falsch und technisch undurchführbar. „Gottessegen“ sei die einzige Zeche, die im Ruhrgebiet noch „Kohle für Wasserwerke, Kraftwerke und Krankenhäuser“ liefere, wendet Heimann ein. „Junge, lass das mal sein“, hatte Vater Heimann seinem Sohn Rückendeckung für dessen Nein gegeben. Haack wird am 11. August 1949 aussagen: „Ich erklärte den Herren, dass ich das ablehnen müsse. Im Übrigen wäre auch nicht der Strom da, um eine derartige Unterbringung durchführen zu können“. Klemp bewertet die Besuche heute so: „Die Vernunft siegte“

Mit den Absagen der Betriebsleiter sind die Emissäre Ende März zurück im Quartier der Schutzpolizei. Jetzt erst - und wohl nach heftigem internen Streit zwischen Altner und Stöwe, ob ein Befehl dieser Tragweite nicht schriftlich vorliegen müsse - legt die Polizeiführung die Schalter um. Die Order des Gauleiters wird nicht weiter verfolgt - vielleicht, weil es zu spät ist: Am 7. April erreicht die 75. US-Infanteriedivision von Castrop-Rauxel her die Stadt, andere Einheiten rücken in der Nacht zum 13. April über Hörde vor. „Gottessegen“ fällt ihnen in die Hände. Gegen 16.30 Uhr ruhen die Waffen. Das Sternenbanner weht über Dortmunds ausgebombten Ruinen.

Am Ende oft in Gulags gelandet

Polizeichef Altner ist da schon tot. Er hat sich wenige Stunden zuvor in seinem Dienstwagen erschossen. Oberst Wilhelm Stöwe kommt ungeschoren davon. Er wird sich erst vom Innenminister des neuen Landes Nordrhein-Westfalens einen „Persilschein“ beschaffen und in den Ruhestand versetzen lassen. Gauleiter Hoffmann rühmt sich – entgegen vielen Fakten – im Entnazifizierungsverfahren als „Retter des Ruhrgebiets“, weil er den berüchtigten „Nero“-Zerstörungsbefehl aus Berlin nicht verfolgt habe. Bis zu seinem Tod 1972 wird er in Bremen erfolgreich Autos verkaufen. Im Archiv des Bochumer Bergbau-Museums liegt der Nachlass des Dr. Werner Haack. „Eine ausgiebige Recherche zu persönlichen Gedanken und Vorkommnissen während des 2. Weltkriegs haben in unseren Beständen zu keinem Ergebnis geführt“, so das Archiv.

Vor allem: Die Zeugenaussagen von 1949 haben nie zu einem Prozess geführt und nie Schlagzeilen gemacht. Kein Gremium des neuen Deutschland hat je den mutmaßlichen Rettern der 30 000 zum Grubentod verdammten Nazi-Opfer gedankt, die das Verbrechen – mit welchen Begründungen auch immer – verhindert haben. Ein gutes Ende hat die Geschichte für viele der Betroffenen ohnehin nicht genommen. Die sowjetische Militärmission richtete in Bielefeld eine Stelle ein, um die Fremdarbeiter und Kriegsgefangenen aus der Region Ruhr in die Heimat „zurückzuführen“. Zu Hause erklärte sie Stalin zu „Vaterlandsverrätern“. Nicht wenige bezahlten ihr Davonkommen mit dem Leben – in den Gulags der anderen Diktatur.