Essen. . Beim Bau der Emscher waren Zwangsarbeiter beschäftigt. Die Emschergenossenschaft hat nun ihre NS-Zeit aufgearbeitet, doch wichtige Akten fehlen.

Als der Chefchemiker Hermann Bach im Jahr 1935 zwangsweise in den Vorruhestand versetzt wurde, ahnte er wohl, dass dies der Beginn eines Leidensweges sein würde. Bach war einer der wichtigsten Mitarbeiter der Emschergenossenschaft, versuchte aus den Abwässern des Industrieflusses Rohstoffe zu gewinnen, aber er war eben Jude. Bach flüchtete umgehend nach Berlin und plante hier getrennt von der Familie seine Auswanderung. Es sollte ihm nicht mehr gelingen. 1944 starb Hermann Bach in einem Sammellager bei Berlin.

Seiner Geschichte haben Historiker der Ruhr-Uni Bochum nachgeforscht, zwei Jahre lang untersuchte das Team die NS-Vergangenheit der Wasserwirtschaftsverbände Emschergenossenschaft und Lippeverband (EGLV). „Die zentrale Erkenntnis ist die folgende“, sagt deren Vorstandsvorsitzender Uli Paetzel, der die Studie in Auftrag gegeben hat: Auch die Genossenschaft habe „mitgemacht und NS-konform gehandelt“. Sie beschäftigte mindestens hundert Zwangsarbeiter, so viel ist sicher, doch es können auch deutlich mehr gewesen sein.

Ein Puzzle mit großen Lücken

Ebenso waren Mitarbeiter „von rassistischen und politischen Säuberungsprozessen betroffen“, so Paetzel. Dokumentiert sind hier sechs Fälle, darunter ist Bach das einzige jüdische Opfer. Bekannt ist noch, dass das SPD-Mitglied Josef Eulgem 1933 entlassen wurde, da er dagegen klagte – erfolglos. Die restlichen Opfer sind namenlos und auch hier gilt, dass es mehr gewesen sein können. Doch die Historiker standen vor einem Puzzle, bei dem es weiter große Lücken gibt.

Bomben sollen angeblich die relevanten Dokumente aus der NS-Zeit vernichtet haben, hieß es in den Akten. „Aber das glauben wir nicht“, sagt Eva Balz aus dem Team von Geschichtsprofessor Constantin Goschler. Die Emschergenossenschaft hat ihre Registratur seit je nicht chronologisch geordnet, sondern nach technischen Projekten. Eine Akte bildet also meist einen längeren Zeitraum – doch genau die NS-Zeit fehlt in aller Regel, stellten die Forscher schnell fest – obwohl die Zeiten vorher und nachher gut dokumentiert sind. Hier sind für jedes Jahr hunderte Fotos erhalten, für die gesamte NS-Zeit (1933-45) dagegen nur 78 Bilder.

Dies deute darauf hin, so Balz, dass es bei den Chefs der Emschergenossenschaft ein für die Zeit ungewöhnliches Bewusstsein zum Thema Zwangsarbeit gab. Offenbar wollte man sich bei den britischen Siegern gut darstellen – mit Erfolg scheint es, denn fast alle Vorstände behielten nach dem Krieg ihre Posten. Auch die Abhängigkeit von ihrem technischen Fachwissen ließ „die Entnazifizierung vergleichsweise zahm ausfallen“.

Blatt für Blatt durch den Aktenberg

Und so blieb den Forschern keine Wahl: Fünf studentische Hilfskräfte blätterten sich wochenlang im stattlichen Emschersaal durch fast das gesamte Archiv – und fanden tatsächlich auf der Rückseite einer Akte aufgeklebt einen Bericht an den Wehrbeauftragten vom 1. November 1940, nach dem überwiegend jüdische Zwangsarbeiter bei der Kanalisierung des Dortmunder Erlenbaches eingesetzt wurden. Dreizehn Männer waren es, fanden die Forscher dann heraus. Auch holländische, polnische, französische und in der zweiten Kriegshälfte russische Gefangene mussten knechten. Über ihre genauen Zahlen ist nichts bekannt, auch nicht, ob sie misshandelt wurden, was einen Verstoß gegen das Völkerrecht dargestellt hätte.

Die Emschergenossenschaft beschäftigte die Arbeiter nicht direkt, sondern über ihre Auftragsunternehmen. Auch diesen Verbindungen gingen die fünf Teammitglieder nach, so dass das „große Puzzle“ sie in 14 Archive führte, von der IHK in Köln über Berlin bis hin nach London; zu vielen Einrichtungen mehr nahmen sie Kontakt auf und trafen auf Pensionärtreffen Mitarbeiter, die zwar erst nach dem Krieg angefangen hatten, aber zumindest vom Hörensagen über Personen und Mechanismen berichten konnten. Hier gab es auch den ersten Hinweis auf Chefchemiker Hermann Bach.

Zwischen Staat und Wirtschaft

Der Verband nimmt als Genossenschaft eine Rolle zwischen Staat und Wirtschaft ein und hat sich über nun fast 120 Jahre über alle politischen Umwälzungen hinweg in seinen Strukturen erhalten. Das machte sie nach den ersten zwei Wellen der NS-Untersuchungen in den 90ern, wo Unternehmen im Fokus standen, und in den Nuller-Jahren, als es und öffentliche Stellen ging, noch einmal spannend für die Forscher.Sie sprechen von einer Art Selbsterhaltungstrieb der Organisation, der die Verantwortlichen zur Anpassung an das NS-Regime und punktuell zum Widersetzen gegen eine Durchdringung geleitet hat. Die EGLV bewege sich im Graubereich, sagt Wissenschaftler Christopher Kirchberg.

Und warum diese Untersuchung erst zu diesem Zeitpunkt? „Es ist so oder so zu spät, was wir tun, aber es ist richtig, es zu tun“, sagt Paetzel, der den EGLV-Chefposten vor rund drei Jahren übernahm. Er hatte das Projekt recht schnell danach angestoßen, als er bei den Vorbereitungen zum kommenden 120-jährigen Verbandsgeburtstag die Geschichtsblindheit seines Hauses erkannte. Der Aufstieg des Rechtspopulismus in Deutschland und der Welt besorgt Paetzel: „Wir verhalten uns nicht technisch neutral“, sagt er, „sondern übernehmen Verantwortung, damit wir weiterhin in einer demokratischen Gesellschaft leben können.“


>> Info: Was nun mit den Ergebnissen geschieht

Anfang 2020 sollen die Ergebnisse der Forschung als Buch im Klartext-Verlag erscheinen. Auch einen wissenschaftlichen Fachartikel wird es geben.

Wo Zwangsarbeiter nachgewiesen eingesetzt wurden an der Emscher und ihren Nebenläufen, sollen Kunst und Tafeln an die Opfer erinnern. Ein Schild wird künftig an der Essener Hauptverwaltung der zwei Verbände auf die Taten während der NS-Zeit hinweisen. Ein Porträt des Vorstands während der Nazi-Zeit wird mit einer einordnenden Kommentierung versehen.

Zudem will die Emschergenossenschaft ihr Labor nach ihrem ehemaligen Chefchemiker Hermann Bach benennen. Am Entschädigungsfonds für Zwangsarbeiter hatte die EGLV sich schon 2000 mit 200.000 Euro beteiligt.