Essen. Rüttenscheider Bad wird zur Ballett-Bühne: Für die Oper „Orfeo/ Euridice“ filmt das Aalto-Theater zwei Tänzer beim Unterwasser-Auftritt.
Die Unterwelt hat zwei Meter Wassertiefe. Wer hier in den Hades hinabsteigt, der muss vor allem gut die Luft anhalten können. „Orfeo“ pumpt auf dem Sprungblock noch einmal kräftig Sauerstoff in die Lungenbläschen und dann macht es auch schon „splash“. Das Aalto-Theater geht auf Tauchgang.
Das Essener Musiktheater findet im Coronajahr 2020 neue Wege, um Bilder für die Isolation unserer Zeit zu finden. Regisseur Paul-Georg Dittrich und Videodesigner Vincent Stefan mussten gar nicht lange nachdenken, als der Aalto-Spielplan im Sommer Corona-bedingt noch einmal umgeschmissen wurde und statt Wagners „Tannhäuser“ Glucks Reformoper „Orfeo ed Euridice“ auf den Spielplan rückte. Schnell war klar, dass die Unterwasserwelt ein idealer Raum für die Erfahrungen von Abschottung und Sprachlosigkeit ist. Und für das Gefühl, von einem Atemzug auf den anderen in eine neue Welt geworfen zu werden, in der sich auch der Körper mit seinen eingespielten Bewegungen neu erfinden muss.
Auf bunten Flipflops geht’s ins Totenreich
Und so sind sie an diesem Samstagabend im Schwimmzentrum Rüttenscheid versammelt, um die imposanten Videobilder zu drehen, die den Auftritt der Sängerensembles ab dem 26. September filmisch begleiten werden. Dramaturgin Svenja Gottsmann, Amelie Groll und Edita Treller aus der Requisite und das Video-Team, bewaffnet mit Tauchanzug und teilweise auch mit Sauerstoffflasche auf dem Rücken, haben für die zwei Abende einen straffen Drehplan aufgestellt. Während Orfeo und Euridice in ihren langen, wasserblauen Gewändern noch etwas zögerlich die ungewohnte Bühne in bunten Flipflops betreten. Auch der stellvertretende Bad-Betriebsleiter Dominik Waap hat schon viel erlebt. Aber zwei Tänzer beim Unterwasserballett, das hat es auch im Rüttenscheider Hallenbad noch nicht gegeben.
Nicht nur Waap ist gespannt. Auch die beiden Aalto-Tänzer Larissa Machado und Dale Rhodes stehen wohl vor dem bislang ungewöhnlichsten Auftritt ihrer Karriere. Die beiden sind nicht nur Kollegen im Essener Ballett-Ensemble, sondern auch privat ein Paar. Deshalb dürfen sie für die Videodreharbeiten gemeinsam vor die Kamera und sich unter Wasser näher kommen, für diese tieftraurige Geschichte, die vom Verlust des geliebten Menschen erzählt, von der Trennung durch den Tod, den es doch zu überwinden gilt.
In der 1762 uraufgeführten Oper muss Orpheus dafür in die Unterwelt hinabsteigen, die Furien mit seinem Gesang besänftigen und dem Gebot der Götter folgen, sich auf dem Weg zurück ans Licht nicht nach Euridice umzusehen. Bekanntlich gelingt ihm das nicht, doch Glucks Oper schenkt den Liebenden trotzdem ein Happy End. In Dittrichs Bühnenfassung wird aus diesem mythenreichen Stoff nun eine Reise in die Tiefen des eigenen Ichs, in die Abgründe einer gepeinigten Seelenlandschaft, die im Aalto-Theater später nicht nur Bilder aus dem Rüttenscheider Schwimmbad zeigt. Auch auf der Zeche Zollverein und im Bochumer Bergbau-Museum haben Vincent Stefan und sein Kamera-Team in den vergangenen Tagen Orte entdeckt, wo die Welt diese mythischen Gestalten wie eine symbolische Taucherglocke umschließt.
Die Requisiten für die Unterwasser-Welt sind mit Blei beschwert
Der Videodesigner hat schon für mehrere Produktionen unter Wasser gedreht. Was ihn interessiert, ist der „Moment des Einbruchs in eine neue Realität“. Doch bevor Vincent Stefan mit seinen Tänzern und der Unterwasserkamera tatsächlich abtauchen kann, gibt es zunächst einmal viele technische Dinge zu klären. Wie gelingt es, möglichst schwebend und doch ausdrucksstark durch die spiegelglatte Wasseroberfläche in den Hallenbad-Hades vorzudringen? Und wie bleibt man auch ohne Schnorchel und Sauerstoffflasche möglichst lange unter Wasser, damit der Kameramann genügend Bilder bekommt.
Was im Tanz von Vorteil ist, erweist sich beim Unterwasserballett nämlich als Hindernis: das fehlende Gewicht. Und so ist auch Larissa Machados zarte Euridice bald mit einem Bleigürtel um die schmale Taille beschwert. Wie die vielen Gegenstände, die sich die Requisiteurinnen Amelie Groll und Edita Treller in der Schlosserei extra mit Zusatzgewichten haben anfertigen lassen.
Blumengebinde, Bäume, sogar ein riesiges Krankenbett und die Utensilien für ein stilechtes Unterwasser-Candlelight-Dinner stehen für den Dreh bereit, der allen Beteiligten an diesem Abend viel Kraft abfordert.
Denn die wasserblauen Gewänder kleben dabei nach jedem Sprung wie Schlingpflanzen an den Beinen und zwingen die klatschnassen Künstler dazu, nach jedem Sprung die Kostüme erst mal gründlich auszuwringen. „Gut, dass wir in den vergangenen Tagen schon mal ein bisschen Luftanhalten geübt haben“, gesteht Larissa Machado und lugt lachend über die Schwimmbrille. Denn an diesem Abend röten sich die Augen nicht über die traurige Liebesgeschichte. Es ist ausnahmsweise nur das Chlor.