Duisburg. Als Gastarbeiter kamen Yaşar und Reyhan Kaynar aus der Türkei nach Duisburg. Ihre Buchhandlung ging in die Geschichte ein. Das steckt dahinter.
Ob die Kaynars damals geahnt haben, dass sie einmal Geschichte schreiben werden? Als Gastarbeiter kommen Yaşar und Reyhan Ende der 1960er-Jahre aus der Türkei nach Deutschland, wie so viele in jener Zeit. Fast 20 Jahre lang bleiben sie in ihrer Wahlheimat. Zentrum des Geschehens: ihre Buchhandlung mitten in Duisburg.
Als die beiden 1969 von Istanbul aus per Bahn nach Deutschland fahren, sind Yaşar und Reyhan nicht einmal 30 Jahre alt. Die Bundesrepublik ist für sie eine völlig neue Welt. Ganz anders als das beschauliche Bedil, ihrem Heimatdorf, etwa 100 Kilometer von Ankara entfernt.
Doch die Kaynars wollen genau diese neue Welt kennenlernen. Sie empfinden Deutschland als Chance, sich beruflich und charakterlich weiterzuentwickeln. Das solle nicht nur ihnen zugute kommen, sondern vor allem ihrer Heimat. Die Kaynars lernen bereits früh den Wert der Gemeinschaft schätzen. Wenn sie später nach Bedil zurückkehren, so ist ihr Plan, sollen ihre Erfahrungen aus Deutschland dem ganzen Dorf nützen. Maximal zwei Jahre wollen sie im Ausland bleiben.
Yaşar Kaynar wird Lehrer in Duisburg: Import von Schulbüchern aus der Türkei
In Deutschland angekommen, sind die Kaynars zunächst bei Industriefirmen in Meerbusch tätig. Doch 1971 öffnet sich für Yaşar, der zuvor in Bedil als Lehrer gearbeitet hat, eine Tür. Die Grundschule an der Lüderitzallee in Duisburg sucht dringend eine Lehrkraft für Gastarbeiterkinder, die in „Vorbereitungsklassen“ in das deutsche Bildungssystem integriert werden sollen.
Yaşar nimmt das Angebot an und kehrt damit in seinen ursprünglichen Beruf zurück. Doch der Unterricht der türkischen Kinder wird zur Herausforderung, denn Schulbücher sind kaum zu finden. In stundenlanger Eigenarbeit entwirft Yaşar eigene Materialien. Schnell wird ihm klar: Das kann auf Dauer nicht so weitergehen.
Doch Not macht erfinderisch. Bei Reisen in die Türkei besorgt Yaşar passende Schulbücher und bringt diese nach Deutschland mit. Auch andere Türkischlehrer aus Duisburg und der Umgebung versorgt er so mit den dringend benötigten Materialien. Später erlaubt ihm das Schulamt sogar den gewerblichen Import des Bücher. Immer mehr Aufträge gehen so bei den Kaynars ein.
Eigener Verlag: Die Kaynars veröffentlichen eigene Schulbücher
Um den stetig steigenden Schulbuchverkauf zu organisieren, gründen sie 1973 eine kleine Buchhandlung an der Hansastraße 86 in Duisburg-Duissern. Schnell wird das Geschäft zu einem intellektuellen Treffpunkt der türkischen Gemeinschaft. Und nicht mehr nur Lehrer wenden sich an die Kaynars, sondern auch Bibliotheken oder Krankenhäuser, um Lektüren zu erwerben. Selbst aus dem Ausland kommen Kunden. Sie sind sich einig: Hier in Duisburg steht die größte türkische Buchhandlung außerhalb der Türkei.
Trotz aller Erfolge: Die Versorgung der Schulen mit türkischen Büchern gleicht in den 1970er-Jahren dem Kampf gegen Windmühlen. Auch die inhaltlichen Anforderungen an das Material steigt. Abermals ist also Einfallsreichtum gefragt – und die Kaynars haben bereits eine Idee: Schon bald verkaufen sie nicht mehr nur Bücher, sie stellen auch welche her. Zusammen mit befreundeten Lehrern gründet Yaşar die „Türkische Pädagogen Gruppe“, die neue Schulbücher entwirft – gedruckt und veröffentlicht vom Kaynar-Verlag.
Das Engagement von Yaşar und Reyhan ist bald auch außerhalb der türkischen Gemeinschaft bekannt. In Duisburg stehen die Buchhandlung und der Verlag sinnbildlich für die Integration der Gastarbeiter in die deutsche Gesellschaft. Bis in die 1980er-Jahre ist die Bücherei ein beliebter Treffpunkt für Menschen aller Kulturen.
Rückkehr in die Türkei, doch die Verbindung bleibt bestehen
Auch wenn es am Ende mehr als zwei Jahre sind: Ihre türkische Heimat vergessen die Kaynars nie. 1985 verlegen sie ihren Lebensmittelpunkt zurück in die Türkei, drei Jahre später schließen sie die Buchhandlung in Duisburg endgültig. Ihre Erfahrungen aus Deutschland helfen ihnen, in der Heimat Fuß zu fassen. Reyhan, die sich in Deutschland zur Fachkomsmetikerin ausgebildet hat, eröffnet in Istanbul den ersten Schönheitssalon nach deutschen Maßstäben. Yaşar wiederum wird Leiter einer erfolgreichen Holzspielzeugfabrik.
Nicht zuletzt engagieren sich die Kaynars in ihrem Dorf Bedil. Unter anderem initiieren sie einen Festtag, an dem Dorfbewohner und Verwandte aus aller Welt gemeinsam Setzlinge für den naheliegenden Wald pflanzen. Und auch Duisburg bleiben sie noch immer erhalten. Bis heute reisen Yaşar und Reyhan Kaynar hin und wieder in ihre einstige Wahlheimat, in der sie einst Geschichte schrieben.
Der Beitrag beruht auf einem Vortrag von Dr. Türkan Yilmaz, Schwester von Reyhan Kaynar, vorgetragen am 21.11.2024 im Stadtarchiv Duisburg.
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