Duisburg-Homberg. Dirk Lachmann legt ein neues Kapitel seiner Reihe „Homberg unterm Hakenkreuz“ vor. Es geht um Euthanasie. Ein schweres Thema, in jeder Hinsicht.

Sophie H. verhielt sich seltsam. Sie wirkte ungeordnet und zerfahren, steht in ihrer Krankenakte. Oft führte sie Selbstgespräche oder schimpfte vor sich hin. 1924 wies man sie mit der Diagnose Schizophrenie in die Nervenklinik Bedburg-Hau ein. Ihr späteres Todesurteil. Der Forscher Dirk Lachmann ist heute sicher, dass die Frau aus dem Altkreis Moers ein Opfer der Aktion T4 wurde, Deckname für die Massenmorde der Nationalsozialisten an kranken und behinderten Menschen. Sophie H. wurde mehrfach verlegt und dann mit 27 weiteren Patientinnen in die Krankeneinrichtung Hadamar in Hessen transportiert, eine staatliche Tötungsanstalt. Dort starb sie mit 55 Jahren.

Kein Einzelfall. Rund 70.000 Menschen wurden von 1939 bis 1941 unter dem irreführenden Begriff „Euthanasie“ systematisch ermordet. Einige Schicksale macht Lachmann jetzt im neuen Kapitel seiner Reihe zur NS-Zeit sichtbar. Kein leichtes Unterfangen, in jeder Hinsicht.

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Seit vielen Jahren forscht der pensionierte Lehrer über die Nazi-Zeit in seinem Stadtbezirk. Auf seiner Homepage „Homberg unterm Hakenkreuz“ arbeitete er bereits die Schicksale Homberger Juden und das Thema Zwangsarbeit auf. Jetzt hat er das Kapitel über die NS-Euthanasie abgeschlossen. Vor einiger Zeit hatte er er bereits über das sechsjährige Kind Karl-Heinz aus Homberg berichtet, das in Wien in der Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof ermordet wurde, weil es sich nur zögerlich entwickelte.

Ärzte und Leiter von Kranken- oder Strafanstalten waren auch in Duisburg Mittäter

Grundsätzlich, erläutert Lachmann, wandten die Nazis gegenüber behinderten Menschen zwei Prinzipien an: Wer ohne staatliche Hilfe zurecht kam, wurde sterilisiert („Rassenhygiene“). Wer von keinerlei ökonomischem Nutzen war, ermordet („Rassenhygiene durch Euthanasie“). Grundlage bot das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das Hitler bereits 1933 eingeführt hatte. Mittäter: Beamtete Ärzte und Leiter von Kranken-, Pflege oder Strafanstalten.

Als erbkrank galt jeder, der unter „angeborenem Schwachsinn, Schizophrenie, zirkulärem Irrsinn (manisch-depressive Erkrankung), erblicher Fallsucht (Epilepsie), Veitstanz (unheilbare Hirnerkrankung), erblicher Blindheit und Taubheit, schwerer erblicher Missbildung oder Alkoholsucht“ litt.

Vieles bleibt auch nach Abschluss der Recherchen unbekannt, räumt Lachmann ein. Forschungsarbeiten, auf die er zurückgreifen konnte, gibt es nicht: „Euthanasie gehörte zu den Tabu-Themen.“ Die Verbrechen wurden von betroffenen Familien selten öffentlich gemacht. Viele schwiegen aus Scham. Außerdem ist die Quellenlage dürftig: Patienten wurden mehrfach verlegt und verschwanden dann spurlos. Krankenakten gingen verloren oder wurden vernichtet. Konkrete Folge für Lachmanns Forschungen: „Nur von fünf Personen gibt es präzise Ortsdaten.“

Dirk Lachmann konnte 50 Fälle von Männern und Frauen aus Homberg erfassen

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Insgesamt gelang es ihm, 50 Fälle von behinderten Männern und Frauen aus Homberg namentlich zu erfassen, von denen die meisten in einer der sechs Tötungsanstalten Deutschlands ermordet wurde. Im gesamten Altkreis Moers konnte Lachmann 174 Opfer ermitteln. 34 kamen direkt aus Moers, die übrigen lebten in Rheinhausen, Homberg, Kamp-Lintfort und Neukirchen-Vluyn.

Einer ist Wenzel M. Fest steht, dass der Homberger im November 1939 mit zehn weiteren Männern aus der Provinz-Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau in die Zwischenanstalt Hildesheim transportiert wurde, schildert Lachmann. Im März 1941 wurde die Gruppe nach Waldheim/Sachsen verlegt. Dort verliert sich seine Spur. Vermutlich wurde er später in der Vernichtungsanstalt „D“ in Pirna-Sonnenstein vergast. Ebenso unvollständig bleibt die Geschichte der Hombergerin Elisabeth J., einer 25-Jährigen, die an Rachitis litt. Hier fand Lachmann heraus, dass sie 1944 in der Wiener Wagner-von Jauregg-Pflegeanstalt untergebracht wurde, wo sie wenig später starb. Ihren Eltern teilte man mit, dass die junge Frau Opfer einer schnell verlaufenden Lungenentzündung geworden war. „Die Leiche wurde am Wiener Zentralfriedhof beerdigt. „Die Grabstelle (Massengrab) ist bei der Friedhofsverwaltung zu erfragen“, steht in dem Schreiben.

1941 wurden die Massenmorde an kranken Menschen wegen Protesten von Richtern und Geistlichen offiziell gestoppt. Im Anschluss sollen jedoch noch weitere 30.000 Patienten ermordet worden sein.

Verbrechen wurden auch in Bedburg-Hau und im Bertha-Krankenhaus in Rheinhausen begangen

Es gehört zu Lachmanns Vorgehensweise, dass er bei den Opfern auf die Nennung der Nachnamen verzichtet, um die Gefühle Hinterbliebener zu schützen. Die Täter jedoch, die auf lokaler Ebene im Auftrag Hitlers handelten, nennt er - ebenso die Orte, an denen Nazi-Verbrechen begangen wurden: Demnach wurden in der Pflegeanstalt Bedburg Hau früh staatlich verordnete Zwangssterilisationen durchgeführt. Ab August 1935 hatte sich dort Dr. Arthur Trapet zusehends in den Dienst der NS-Rassenideologie gestellt. Eingriffe fanden auch im Bethanien in Moers und im Bertha-Krankenhaus in Rheinhausen statt. Bei letzteren beiden geben Archive Aufschluss über 308 Menschen, die dort zwischen 1935 und 1941 zwangsweise sterilisiert wurden.

Dirk Lachmann hat auch diesem Kapitel eine Zeittafel beigefügt. Seine Forschungen veröffentlicht er bewusst im Internet, um so die Nachgeborenen zu erreichen. Außerdem hält er Vorträge an Schulen. „Wer die Vergangenheit ignoriert, ist bereit, sie wieder geschehen zu lassen“, hat er als Motto über seine Arbeit gestellt.

Inzwischen hat er mit dem nächsten Kapitel begonnen, das ihm schon lange am Herzen liegt: Dem Widerstand gegen die NS-Diktatur.

>>>> Heinrich Kost ist kein Ehrenbürger der Stadt Duisburg mehr <<<<

  • In seinem Kapitel über die Zwangsarbeit in Homberg berichtete Dirk Lachmann über Heinrich Kost, ehemaliger Generaldirektor von Rheinpreußen und Neumühl.
  • In seinem Text kritisierte er, dass ein nachweislich eng mit den Nazis verbandelter Unternehmer, mitverantwortlich für das Unrecht, das Bergleuten während der NS-Zeit angetan wurde, seit den 70er Jahren Ehrenbürger der Stadt Duisburg ist.
  • Seine Ausführungen und die anderer lokaler Forscher führten dazu, dass Heinrich Kost Ende September via Ratsbeschluss von der Liste der Duisburger Ehrenbürger gestrichen wurde.