Bottrop. Wir haben in Bottrop mit denen gesprochen, die der sogenannten Trinkerszene zugerechnet werden. Hier erzählen fünf von ihnen ihre Geschichte.

Andreas, der eigentlich anders heißt, kennen die meisten hier nur als Doc. „Weil ich hier mal Pillen verkauft hab“, sagt er und lächelt verschmitzt. In Jeansjacke, mit einer blauen Schirmmütze auf dem Kopf, unter der die grauen Haare hervorschauen und ausgetretenen Lederschuhen sitzt er auf einer Bank auf dem Berliner Platz.

Seit gut 20 Jahren trifft man den 59-Jährigen auf der Platte, wie der in der Öffentlichkeit immer wieder in Verruf geratene Platz am ZOB Bottrop von denen genannt wird, die hier ihren Tag verbringen. Im Blickfeld liegt die einzige Haltestelle, von der in Bottrop nie ein Bus abfährt.

In Bottrop kennt sie fast jeder vom Sehen

Der von der Stadt dort platzierte Unterstand ist meist gut besucht. Dort halten sich die unbekannten Bekannten von Bottrop auf: Menschen, die man ständig sieht, deren Bekanntschaft man aber nie gemacht hat. Hier erzählen fünf von ihnen ihre Geschichte: Was sie auf die Platte trieb und warum sie nicht mehr davon loskommen.

So wie der Doc, der hier jeden zu kennen scheint. Alle zehn Minuten sagt jemand hallo; der Doc grüßt stets freundlich mit einem Lächeln zurück. Dann sackt er wieder zusammen, die Ellbogen auf die Knie gestützt.


 Daniel, Kai und Nejib (v.l.) gehören zur Stammgruppe an Bottrops ZOB.
 Daniel, Kai und Nejib (v.l.) gehören zur Stammgruppe an Bottrops ZOB. © Niklas Schlottmann

Wenn er von seiner Zeit als Betriebsschlosser und Bandmeister auf Prosper 10 erzählt, leuchten seine Augen. „Das hab ich so geliebt, den Job, da haste immer Abwechslung.“ Auf der 1000-Meter-Sohle hat er die Förderbänder am Laufen gehalten und dafür gesorgt, „dass das Ganze nicht absäuft“. Angefangen hat er bei Prosper ZW, wo auch schon sein Vater beschäftigt war. Als Prosper 10 im Jahr 2018 dichtmachte, war Andreas schon länger nicht mehr dabei. Vor 20 Jahren verlor er seine Arbeit. Wie das kam, will er nicht verraten.

Am Berliner Platz treffen sich fast nur Mischkonsumenten

Über Tage wollte ihn dann niemand haben, sagt Andreas. „Also versuchste, irgendwie Geld zu machen.“ So begann er zu dealen. „Mit Schmerzmitteln, Speed, Barbituraten. Ich hab alles vertickt.“ Einen Teil davon habe ihm sein Arzt verschrieben – der Doc, dem der Doc seinen Namen verdankt. Andreas begann, selbst zu konsumieren und wurde irgendwann heroinabhängig. Mit der Polizei habe er in all der Zeit nie Stress gehabt. Heute lebe er von 563 Euro Bürgergeld.

„Ich will nie wieder körperlich abhängig werden“, sagt er. „Da hab ich meinen Zacken mit gemacht.“ Ganz losgekommen vom Heroin ist er nicht; alle paar Wochen konsumiere er noch. Die restliche Zeit wird mit Bier überbrückt. Um 12 Uhr geht er mit seinem sechsten Paderborner rüber zum Unterstand. „Hab ich heut früh beim Büdchen auf Kombi geholt (anschreiben lassen)“ , erklärt er.

„Aber die sind alle tot, ich vermisse die. Alle.“

Was ihn hier täglich hintreibt? „Ich brauche die Leute um mich herum, ich hab mir hier einen Namen aufgebaut“, sagt er. Respekt und Loyalität verbinde man mit seinem Namen. Auf der Platte, wo es mitunter rau zugeht, ist das viel wert. „Heute denkt ja jeder nur an sein‘ Arsch.“ Früher sei es besser gewesen. Da lebten viele seiner Freunde noch. „Aber die sind alle tot, ich vermisse die. Alle.“

Dieter ist mit seinen 65 Jahren heute der Älteste hier. Ohne seine Lederkutte geht er nicht aus dem Haus, auf dem Kopf trägt er einen braunen Cowboyhut. Wegen seiner drahtigen Statur und den wenigen Falten im Gesicht schätzt man ihn jünger. „Drogen konservieren“, sagt er.

„Nur noch Alkis und Pillenfresser hier“

Direkt gegenüber wartet man auf den nächsten Bus. Von dort, etwas höher gelegen, werden Dieter und den anderen auf der Platte hin und wieder verstohlene Blicke zugeworfen, manchmal auch mehr als das. „Wir werden hier ständig beworfen von den Kindern, die hören damit nicht auf.“ Von den Ordnungshütern fühlt Dieter sich im Stich gelassen. Von der Stammgruppe mache hier niemand Ärger. „Die aus Oberhausen oder Duisburg, die direkt aus dem Knast kommen, das sind die, die Stress machen“, sagt er. Zustimmung in der Gruppe. Denen würde nicht mal ein Platzverweis erteilt. „Und wenn einer was macht, fällt das auf alle zurück“, wirft jemand ein.

Ein nervös wirkender Mann, um die 50, nähert sich und fragt über das Geländer gebeugt in die Runde: „Keiner mit Stoff hier?“ Als alle verneinen, sagt er: „Nur noch Alkis und Pillenfresser hier.“ Er schüttelt den Kopf. „Es geht bergab mit der Platte“, sagt einer und erntet Lacher in der Runde.

So leer ist es nur selten hier. Der Unterstand zwischen Kaufland und ZOB wurde 2019 gebaut, von der Szene wird er gut angenommen.
So leer ist es nur selten hier. Der Unterstand zwischen Kaufland und ZOB wurde 2019 gebaut, von der Szene wird er gut angenommen. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Niemand ist obdachlos, doch nicht alle haben eine eigene Wohnung

Dieter hat zwei erwachsene Kinder, früher hat er als Autolackierer, später dann als Lkw-Fahrer gearbeitet. 13 Jahre auf Tour in ganz Europa. Heut sei er, wie viele hier, „kaputt geschrieben“: Ischias und Knie. Seine Wohnung teilt er sich mit seiner Partnerin. Die wolle seine Jungs lieber nicht kennenlernen, sagt er. Und überhaupt: „In meine Hütte kommt keiner rein, das ist zu sauber, die Leute wissen sich nicht zu benehmen.“ Keiner sei hier obdachlos, aber nicht jeder habe eine Wohnung: Manche schliefen im Männerwohnheim, andere bei einem Freund. Und so treffe man sich eben hier. Dieter kennt die Platte nun seit 50 Jahren, sagt er.

Wie Andreas findet auch er, dass es früher besser war. „Die Abzieherei, das gabs früher nicht.“ Man habe sich mehr um einander gekümmert. „Früher, wenn einer affig (mit Suchtdruck) ankam, hieß es: Hier haste mal ne Bubble (Portion Heroin), mach dich erstmal wieder gesund.“

„Ich trinke hier meine ein, zwei Bier und dann bin ich wieder weg“

Neben ihm sitzt Mano, 38 Jahre alt, kariertes rotes Hemd, gepflegter dunkler Bart, quer über die Brust eine kleine Umhängetasche. „Ich trinke hier meine ein, zwei Bier und dann bin ich wieder weg“, sagt er. Der Essener kommt regelmäßig nach Bottrop, weil hier sein Substitutionsarzt praktiziert. Wenn er einen Termin hat, schaut er kurz beim Unterstand vorbei.

Mano kommt aus einer Schaustellerfamilie. Seiner Familie, erzählt er, gehörte ein Puppentheater. Als sein Vater an Kehlkopfkrebs erkrankte und infolgedessen seine Stimme verlor, mussten sie dicht machen. Mano lernte das Geschäft von der Pike auf; eine Ausbildung hat er nicht gemacht. Mit einem Cousin hat er dann zum ersten Mal Heroin geraucht. Heute nimmt er, wie die meisten hier, ein Substitutionsmittel. Davon will er nun auch wegkommen.

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„Da ist dieser Riesendruck, nicht zu versagen“

Aus seiner Tasche holt er ein Rezept. Wenn das Krankenhaus anruft, geht es los. Drei Wochen Entgiftung, „das ganze Programm“, sagt Mano. Mit seinem jetzigen Substitutionsmittel sei er nie ganz klar im Kopf, sagt Mano. Zu den Nebenwirkungen von Methadon, dem bekanntesten Substitutionsmittel, zählen unter anderem Schläfrigkeit, Benommenheit und Übelkeit. Mano will nun auf ein anderes umstellen, das unter dem Namen Subutex vertrieben wird.

Längerfristig hofft er, mit einer Spritze Subutex vier Wochen Ruhe zu haben – ohne Begleiterscheinungen. Vielleicht klappt es dann auch wieder mit einem Job. Bei seinem Bruder, der sich als Handwerker etwas aufgebaut hat, könnte er direkt anfangen – wäre da nicht die Sucht. „Da ist dieser Riesendruck, nicht zu versagen“, sagt Mano.

Erst die Arbeit, dann das Sorgerecht verloren

Einer, der schon eine eigene Familie gegründet hat, ist Kai, 49 Jahre alt. Er dreht gerade einen zweiten Joint, während der erste die Runde macht. Auf seiner Hand hat er sich Namen und Geburtsdatum seines Sohnes tätowieren lassen. Zu Gesicht bekommt er den 16-Jährigen nur noch „mit Aufpasser vom Jugendamt“. Weil er Rauschgift konsumiert, hat man ihm das Sorgerecht entzogen. „Das ist doch das Schlimmste als Vater“, sagt Kai.

Kai (r.) und Nejib kennen sich schon lange. Das Leben auf der Platte schweißt zusammen. 
Kai (r.) und Nejib kennen sich schon lange. Das Leben auf der Platte schweißt zusammen.  © Niklas Schlottmann

„Erst hab ich die Arbeit verloren und dann war die Ehe im Arsch“. Und dann kam das Heroin. Heute, sagt er, reichen ihm Bier und Gras. Dass er seinen Sohn nur selten zu Gesicht bekommt, schmerzt ihn sehr. Er blickt auf seinen Handrücken. „Hauptsache, ich seh den hier auf meiner Hand.“

Wer am Unterstand sitzt, outet sich

Auch Kordula hat ein Kind. Sie lehnt am Geländer, in der Hand eine Dose Mischbier. Mit der Schwangerschaft, da war sie 25, wurde sie clean, ganze 14 Jahre lang. Bis sie einen neuen Mann kennenlernte und rückfällig wurde. Heute nimmt sie Polamidon, ein Substitutionsmittel. „Das macht nicht son Feeling wie der Stoff“, sagt sie. Deswegen hätten viele, so wie sie, irgendwann mit dem Trinken angefangen.

Um Kordula herum stehen sonst nur Männer. Die 47-Jährige glaubt zu wissen, warum das so ist. „Frauen geben das weniger zu, weil die auch Kinder haben“, sagt sie. Wer zum Unterstand am ZOB kommt, outet sich; wer diesen Schritt nicht wagen will, trinkt sein Bier lieber allein zu Hause.

„Hätte ich das scheiß Heroin nicht genommen, wäre das nicht passiert“

Die wenigsten gehen mit ihrer Vergangenheit so offen um, wie der sehr fahrige Nejib. Wenn er spricht, fixiert er seinen Gesprächspartner mit den Augen. Insgesamt 18 Jahre ist er in Haft gewesen, erzählt er, ohne danach gefragt zu werden. Die längste Zeit wegen Totschlags. „Hätte ich das scheiß Heroin nicht genommen, wäre das nicht passiert“. Er überfiel einen damaligen Freund, nahm ihm die Drogen ab und trat dann so heftig zu, dass sein Opfer wenige Tage später im Krankenhaus verstarb.

Danach kamen dann noch etliche Strafen dazu: Einbruch, Diebstahl, „Beschaffungskriminalität eben“, sagt Nejib. Aktuell sitzt sein Bruder im Gefängnis, erzählt er. Auf seinem Arm prangt ein mächtiges geflügeltes Pferd. Darauf angesprochen, wird Nejib nachdenklich. „Das ist Pegasus“, sagt er. „Ich will auch frei sein und fliegen. Bin aber immer vor die Wand geflogen.“