Bochum. „Ich sehe hier meine Zukunft, darf aber nicht mitentscheiden“, so eine von fast 47.000 Bochumern. Sie dürfen bei der Bundestagswahl nicht wählen.
Gohar Mkrtchyan kommt nach Bochum, da ist sie ein kleines Mädchen. Das ist nun 17 Jahre her, inzwischen hat die Armenierin ihr Abitur am Lessing-Gymnasium in Langendreer gemacht. Die 23-Jährige studiert Lehramt, macht gerade ein Praktikum an einer Schule in Witten. „Ich stelle mir meine Zukunft hier vor und habe einen unbefristeten Aufenthaltstitel. Aber politisch mitentscheiden, das darf ich nicht“, schildert Mkrtchyan.
Sie ist eine von 46.821 Bochumerinnen und Bochumern, die bei der Bundestagswahlnicht mitbestimmen dürfen. Wählen darf nur, wer einen deutschen Pass hat – so sieht es das Grundgesetz vor. In relativen Zahlen: 15 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner Bochums über 18 Jahren dürfen nicht wählen.
Bochumer ohne deutschen Pass dürfen nicht wählen: „Möchte politisch mitentscheiden“
Betroffen sind auch Mkrtchyans Eltern und die jüngere Schwester (18). Zur Familie gehört außerdem der kleine Bruder, der mit 14 Jahren aber noch zu jung zum Wählen wäre. Ihre Eltern kommen damals in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft nach Deutschland, heute ist die Familie hier komplett integriert – die Mutter arbeitet in Kieferorthopädie-Praxis, der Vater ist Teamleiter in einem Autohaus.
Mkrtchyans würde sich Regelungen wünschen, durch die Personen, die in Deutschland leben und gut integriert sind, politisch mitentscheiden dürfen. Dass hingegen jemand sein Wahlrecht nicht nutzt, obwohl er kann, kann die junge Frau, die in Werne lebt, überhaupt nicht verstehen.
„In Armenien gibt es nicht so eine Demokratie wie in Deutschland. Hier kann man etwas mit seiner Stimme bewegen“, erklärt Mkrtchyan. Sie beantragt derzeit genau wie ihre Eltern und die jüngere Schwester die deutsche Staatsbürgerschaft. Zweimal hat es nicht geklappt, weil die Familie seit zwei Jahren einen unbefristeten Aufenthaltstitel hat, stünden die Chancen nun aber gut. Ihren armenischen Pass würde die 23-Jährige abgeben.
Warum Ausländerinnen und Ausländer nicht wählen dürfen
Wer wählen möchte, muss einen deutschen Pass haben – so steht es, vereinfacht gesagt, im Grundgesetz (Art. 20 GG). „Das Grundgesetz schließt damit die Teilnahme von Ausländerinnen und Ausländern an Wahlen (...) aus“, heißt es auf der Seite des Bundesinnenministeriums.Seit 1992 dürfen bei Kommunalwahlen auch die wählen, die Bürger eines Mitgliedstaates der Europäischen Union sind: „Es setzt eine Regelungsverpflichtung des europäischen Gemeinschaftsrechts um. Eine entsprechende Regelungsverpflichtung zur Einführung eines Wahlrechts für EU-Bürger zur Teilnahme an (...) Wahlen zum Deutschen Bundestag oder zu den Landtagen besteht nicht“, so das Innenministerium.Eine Änderung des Grundgesetzes, durch welche die Artikel eins und 20 berührt werden, ist unzulässig. In Deutschland geborene oder langjährig hier lebende Migrantinnen und Migranten könnten sich unter erleichterten Bedingungen einbürgern lassen und damit auch das Wahlrecht erhalten.
Hätte sie die Möglichkeit, würde Gohar Mkrtchyan keine Sekunde zögern und wählen. Genauso wie Angelina Guenot-Wulff (54), die seit 1991 in Bochum-Wiemelhausen lebt. Aufgewachsen ist sie in Dijon, nördlich von Lyon in Frankreich. Der Liebe wegen zieht die Französin ins Ruhrgebiet, heiratet einen Deutschen, bekommt zwei Kinder.
12.692 EU-Bürger dürfen in Bochum nicht wählen
Als EU-Bürgerin darf Guenot-Wulff zwar bei kommunalen Wahlen ihr Kreuzchen setzen, nicht aber bei Land- oder Bundestagswahlen. Von den rund 47.000 Bochumerinnen und Bochumern, die über 18, aber nicht wahlberechtigt sind, kommen insgesamt 12.692 aus dem EU-Ausland, sind nicht wahlberechtigt.
„Das ist absolut schade. Für mich steht das in einem ganz großen Widerspruch zum europäischen Gedanken“, sagt Guenot-Wulff, die sich eindeutig als Europäerin sieht. Sie hat spanische und italienische Eltern, ihren Mann lernte sie in England kennen. Guenot-Wulff will bald die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen, zusätzlich zu ihrer französischen.
Vorschlag: Jeder sollte da wählen dürfen, wo er lebt
Trotzdem würde sie sich wünschen, dass EU-Bürger in dem Land, in dem sie leben und einen festen Wohnsitz, künftig auch wählen dürfen. „Warum kann man denn nicht sagen: Die Person lebt jetzt zwei Jahre in dem Land und darf dann auch mitentscheiden“, fragt sich die Französin. Schließlich würde es immer normaler, dass Menschen nicht ihr ganzes Leben in einem Land bleiben.
Sandra Magiera (30) ist mit 16 aus Polen nach Deutschland gezogen. Auch sie darf am 26. September nicht wählen. „Das ist sehr traurig. Ich finde, dass ich sehr gut integriert bin. Ich bin hier zur Schule gegangen, arbeite hier. Aber weil ich Mensch mit Migrationshintergrund bin, darf ich niemanden politisch unterstützen“, sagt die Medizinische Fachangestellte aus Gerthe.
„Ob ich jetzt eine polnische oder deutsche Staatsangehörigkeit habe – ich lebe hier“
In ihrem Freundeskreis geht es in Gesprächen häufig um politische Themen. „Wir unterhalten uns da sehr offen. Meine Freunde und auch mein Partner bekommen eine Wahlbenachrichtigung, ich aber nicht“, schildert Magiera. Dass sie nicht berücksichtigt wird, nur weil sie einen polnischen Pass hat, kann und will sie nicht verstehen. „Ob ich jetzt eine polnische oder deutsche Staatsangehörigkeit habe – ich lebe hier. Da läuft ganz viel schief, obwohl Polen ein Nachbarland ist“, so die 30-Jährige.
Sandra Magiera fühlt sich vor den Kopf gestoßen, jedes Mal wenn dafür geworben wird, wählen zu gehen, sie aber nicht darf. Auch Gohar Mkrtchyan und Angelina Guenot-Wulff geht es so. Alle drei hoffen, dass sich etwas ändert.