Oberhausen. Im Rathaus zeigt das Theater Oberhausen „And now Hanau“ – eine Lehrstunde in forensischer Recherche. Gastspiele führen auch zum „Tatort“ Hanau.
Mit ihrer Koproduktion „And now Hanau“ ziehen die Theater Oberhausen und Münster weite Kreise – und sorgen im aufwendig restaurierten Ratssaal an der Schwartzstraße mit der Premiere am Donnerstag, 21. September, für exklusive Erlebnisse. „So spürt man noch mehr die Verantwortung“, meint Saskia Zinsser-Krys, Oberhausens Chefdramaturgin. Denn das Publikum nimmt Platz auf den Plätzen der Ratsfrauen und Ratsherren, um jenes dramatische Tribunal des Autors und Regisseurs Tuğsal Moğul zu erleben, der mit Akribie das umfassende Behördenversagen nach den rassistischen Morden vom 21. Februar 2020 in Hanau aufschlüsselt.
Politisch bedeutsame Schauplätze sind bei dieser Inszenierung Programm: So zeigten im Mai die Ruhrfestspiele die Uraufführung im Recklinghäuser Rathaus. Gastspiele will die Truppe auch im prunkvollen Frankfurter Römer geben – und in Hanau selbst. Dafür nehmen der Autor, Regisseur – und im Hauptberuf Arzt – Tuğsal Moğul und sein Ensemble gerne in Kauf, jeweils „ein bisschen uminszenieren zu müssen“, wie Saskia Zinsser-Krys erklärt. Denn im Oberhausener Ratssaal bleibt für die Schauspielerinnen und Schauspieler nur die kleine „Spielfläche“ vor dem Podium der Verwaltungsspitze.
Doch die Recklinghäuser Uraufführung hat gezeigt: Dem Arzt und Dramatiker Moğul geht es vor allem um die Macht des Wortes und die Aufklärung dank einer beeindruckenden Rechercheleistung. Er setzt auf das Prinzip „Erinnern heißt verändern“, ein Zitat von Cetin Gültekin. Er ist der Bruder von Gökhan Gültekin, einem der neun am 19. Februar 2020 ermordeten Bürger Hanaus.
Die Investigativjournalisten unter den Künstlern
So zeigten die Ruhrfestspiele eine Uraufführung, die sich mit üblichen Kritikermaßstäben gar nicht rezensieren lässt: Kein Schauspiel, sondern ein Tribunal gegen eklatantes und bis heute nur widerstrebend aufgeklärtes Behördenversagen. „Es hört einfach nicht auf“, war – aus zwingenden Gründen – ein leitmotivisch wiederholter Satz des Ensembles mit Tim Weckenbrock und Regina Leenders (vom Theater Oberhausen), Alaaeldin Dyab und Agnes Lampkin (aus Münster). Sicher wurden, von der Lokalzeitung bis zum Nachrichtenmagazin, bereits hunderte Berichte und Kommentare zu den Morden von Hanau publiziert. Und doch scheint erst Tuğsal Moğul die vielen Fragmente und Details so eindringlich und kompakt in 90 Minuten zusammengeführt zu haben. So wie einst, vor 125 Jahren, die flammende Streitschrift „J’accuse“ von Émile Zola die Wende in der antisemitischen Dreyfus-Affäre brachte.
Bei Zolas Brief an den französischen Präsidenten ging es ja auch zuerst um Beweise und deren Unterdrückung. Und nicht um sprachliche Eleganz. So stützt sich „And now Hanau“ in der sekundengenauen Rekonstruktion der Mordnacht entscheidend auf die Leistungen der Rechercheagentur „Forensic Architecture / Forensis“, quasi die Investigativjournalisten unter den Künstlern. Sie sichteten Daten von Überwachungskameras, Aufnahmen von Polizeihubschraubern, Notrufprotokolle und Zeugenaussagen. Tuğsal Moğul und sein Ausstatter Marcin Wierzchowski bringen das komplexe Material, erstaunlich schlüssig, auf einen vom Ensemble bedienten Touchscreen im Zwei-Meter-Hochformat.
„Die Opfer waren keine Fremden“
So folgt man, nach den ersten Schüssen am Bahnhof, dem Auto des Täters – und seinem mutigen Verfolger Vili Viorel Păun. Er hatte während der Fahrt durch Hanau immer wieder den Notruf 110 gewählt: Niemand reagierte. Die personell unterbesetzte und technisch völlig unzulängliche Notrufzentrale in der hessischen Fast-Großstadt war bereits vor den Morden ein zwei Jahrzehnte alter Dauerskandal.
Das Tribunal im Ratssaal wechselt jeweils zwischen der minuziösen Rekonstruktion und der schaurig vermurksten „Aufarbeitung“ des Geschehens durch die Behörden. Wieder Cetin Gültekin: „Sie waren völlig überfordert im Umgang mit trauernden, traumatisierten Menschen.“ Der Vater des mit 22 Jahren ermordeten Hamza Kurtović fragte bitter: „Wie lange bleibe ich Kanake in diesem Land?“
Zu wenig: Ein Mahnmal und neue Straßennamen
„Die Opfer waren keine Fremden“, so stand es an dem vor drei Jahren zum Gedenkort umgewidmeten Hanauer Denkmal der Gebrüder Grimm. Das Darsteller-Quartett montiert während des letzten Aktes ein eigenes Mahnmal aus Metallrohren und bedruckten Bannern. Ihre Forderung: Man sollte belastete Straßennamen ändern. Aus Oberhausens Paul-Reusch-Straße (benannt nach einem großindustriellen Steigbügelhalter für Hitlers Aufstieg) sollte so die „Straße des 19. Februar“ werden.
Ein enttäuschender Schluss für diese Lehrstunde in forensischer Recherche. Denn ein paar neue Straßennamen wären viel zu wenig – damit es endlich aufhört.
Im Ratssaal und auf der Empore
Jeweils 72 Plätze kann das Theater Oberhausen für die Aufführungen von „And now Hanau“ im Ratssaal vergeben – einige auf der Empore. Plätze mit eingeschränkter Sicht sind aber nicht dabei. Karten für die Premiere am Donnerstag, 21. September, um 19.30 Uhr kosten 20 Euro, für die weiteren Vorstellungen 15 Euro.Sieben Termine sind zunächst im Ratssaal angesetzt – mit der Option auf Verlängerung dieses „Gastspiels“. Die weiteren September-Termine folgen am Sonntag, 24., um 18 Uhr und am Freitag, 29., um 19.30 Uhr. Karten gibt’s an der Theaterkasse, 0208 8578 184, per Mail an service@theater-oberhausen.de