Gelsenkirchen. Die WAZ fragt Gelsenkirchens Parteien: Was war die größte Fehlleistung 2021? Über „beschämende“ Entscheidungen & verkehrspolitische Versäumnisse

Was war die größte politische Fehlleistung im Jahr 2021? Es ist eine von drei Fragen, die wir den im Stadtrat vertretenen Parteien in Gelsenkirchen zum Jahreswechsel gestellt haben. Und es ist eine Frage, die Interpretationsspielraum lässt, entweder als Einladung zur Selbstkritik oder als Steilvorlage für Kritik am politischen Gegner verstanden werden kann – zwei Pole, die sich bei den beiden größten Oppositionsparteien in Gelsenkirchen, den Grünen und der AfD, besonders deutlich zeigen.

Gelsenkirchener Grüne geben sich selbstkritisch: Versäumnisse bei der Verkehrspolitik

„Leider haben wir es in dem für uns wichtigen Feld der Verkehrspolitik nicht geschafft, stärker in Erscheinung zu treten und uns in der zentralen Debatte für einen besseren Radverkehr in unserer Stadt durchzusetzen“, geben Adrianna Gorczyk und Peter Tertocha, die Doppelspitze der elfköpfigen Grünen-Fraktion, zu. „So scheiterten unsere Bemühungen für das Anliegen einer unechten Fahrradstraße in Buer genauso wie in der Frage eines geschützten Radweges auf der De-la-Chevallerie-Straße.“

Hätten sich nach eigener Auffassung 2021 verkehrspolitisch mehr durchsetzten müssen: Die Fraktionsvorsitzenden der Gelsenkirchener Grünen Adrianna Gorczyk und Peter Tertocha.
Hätten sich nach eigener Auffassung 2021 verkehrspolitisch mehr durchsetzten müssen: Die Fraktionsvorsitzenden der Gelsenkirchener Grünen Adrianna Gorczyk und Peter Tertocha. © FUNKE Foto Services | Lutz von Staegmann

Das Quartiersnetz Buer-Ost hatte vorgeschlagen, vier Straßen in Buer zu Fahrradstraßen umzuwidmen, auf denen Autos weiterhin erlaubt sind. Die Verwaltung erteilte den Plänen allerdings eine Abfuhr und argumentierte, eine umgewidmete Straße würde „zusätzliche Konflikte im fließenden Verkehr provozieren“. Auf der De-La-Chavallerie-Straße dagegen soll nun zwar eine „echte Radspur“ mit einer durchgezogenen Linie angelegt werden – den Grünen aber reicht das nicht.

Abschiebung einer geistig Behinderten: WIN kritisiert „beschämendes“ Verhalten der GroKo

Ganz anders gibt sich die ebenfalls elfköpfige AfD-Fraktion, welche die Frage nach den Fehlleistungen zum Anlass nimmt, um einmal mehr die „Verweigerungshaltung der Blockparteien“ zu kritisieren. Anträge der AfD haben grundsätzlich keine Chance, im Rat durchzukommen, weil eine Zusammenarbeit mit der in den Augen anderer Fraktionen „undemokratischen“ Partei ausgeschlossen wird. Die AfD dreht den Spieß um: „Der demokratische Diskurs wurde durchgehend unterbunden“, meint Fraktionschef Jan Preuß.


Harte Worte findet ebenfalls die dreiköpfige Fraktion der Wähler-Initiative NRW (WIN). Fraktionsgeschäftsführer Ali-Riza Akyol wirft der Großen Koalition aus SPD und CDU vor, „beschämend und menschenunwürdig“ gehandelt zu haben. Bezug nimmt Akyol mit diesem Vorwurf auf die von der GroKo abgeblockte Forderung nach einem Sachstandsbericht um die Abschiebung einer geistig behinderten 22-Jährigen in den Kosovo. Auf den Fall machte eine Kölner Bürgerrechtsorganisation Ende Oktober aufmerksam, auch die WAZ berichtete. Bei der GroKo scheint man wenig Zweifel an dem Vorgehen der Stadt zu haben. Zudem ist aus den Reihen der Koalitionspartner zu hören, dass bei der Familie viele Integrationsbemühungen gescheitert seien.

FDP Gelsenkirchen bemängelt fehlenden Fortschritt beim UpBus

Und die GroKo selbst? Sie weicht der Frage nach den politischen Misserfolgen weitestgehend aus. Während SPD-Fraktionschef Axel Barton – trotz unserer Bitte, sich aufs kommunalpolitische Geschehen zu beziehen – nur kritisch auf die Entscheidung des Landes zur Schließung der Impfzentren zu sprechen kommt („fatal und unverantwortlich“), und sich damit schon mal für den Landtagswahlkampf 2022 warmläuft, antwortet die CDU: „Eine große Fehlleistung auf kommunaler Ebene ist nur schwer erkennbar.“ Als solche werde man aber rückblickend wohl insgesamt die „zerfaserte und zerstrittene Corona-Politik“ allgemein bewerten, formuliert es Unionsfraktionschef Sascha Kurth reichlich unkonkret.

Sascha Kurth, Fraktionschef der Gelsenkirchener CDU, sieht eine „zerfaserte und zerstrittene Corona-Politik“.
Sascha Kurth, Fraktionschef der Gelsenkirchener CDU, sieht eine „zerfaserte und zerstrittene Corona-Politik“. © FUNKE Foto Services | Oliver Mengedoht

Auch FDP-Fraktionschefin Susanne Cichos sieht „keine große Fehlleistung.“ Allerdings sei man bei den Liberalen enttäuscht darüber, dass „der Verwaltungslotse nicht besser vermarktet und für den UpBus noch keine Modellstrecke beantragt wurde.“ Zur Erinnerung: Jener, offenbar wenig bekannte Verwaltungslotse soll Unternehmen bei Genehmigungsfragen helfen und als Ansprechpartner zur Beschleunigung von Entscheidungen dienen. Der „UpBus“ wiederum fährt autonom, elektrisch und bei Bedarf als Seilbahn – eine Verkehrslösung, für die die FDP schon länger wirbt.

Ganz allgemein, und geradezu politikerverdrossen, fasst die Linke dagegen ihre Enttäuschung über das Jahr 2021 zusammen. Der größte Fehlschlag in Augen von Fraktionschef Martin Gatzemeier: „Die unerfüllte Hoffnung, dass es den Mehrheitsfraktionen tatsächlich primär und sachlich um das Wohl der Stadtbevölkerung und nicht um das Profilieren ihrer jeweiligen Parteien gehen könnte.“

Auch gefragt haben wir die Parteien: Was waren die größten Erfolge 2021? Und was ist Ihr wichtigstes politisches Ziel für 2022? Die Antworten lesen Sie bald auf waz.de/gelsenkirchen und in den kommenden WAZ-Ausgaben

Das sagen die Ratsgruppen

„Die größte politische Fehlleistung war, dass viele unserer bürgerfreundlichen Anträge wie zum Beispiel die Abschaffung der Hundesteuer einfach von der Tagesordnung gefegt wurden und dass wir es nicht geschafft haben, die enorme Steuerverschwendung der GroKo zu verhindern“, sagt Marc Meinhardt, Sprecher der zweiköpfigen Ratsgruppe von der PARTEI.Die ebenfalls zweiköpfige Ratsgruppe von „Tierschutz Hier!“ sieht offenbar ihre eigene Unerfahrenheit als größtes politisches Manko: „Wir mussten wir uns erst im System von Verwaltung und Politik zurechtfinden; wir sind noch Lernende“, schreibt die Ratsgruppenvorsitzende Cornelia Keisel.AUF-Einzelmandatsträger Jan Specht dagegen spricht von einer „Kampagne der Bezirksbürgermeister gegen die Zuwanderer aus südosteuropäischen EU-Ländern“. Tatsächlich hatten die Bürgermeister jedoch keine Kampagne initiiert, sondern in einem WAZ-Interview versammelt vor den weiteren Folgen der Einwanderung aus Südosteuropa für Gelsenkirchen gewarnt. Ein weiterer Fehlschlag laut Specht: „Die in dieser Dimension vermeidbare vierte Corona-Welle.“