Mülheim. Die Austrittswelle bricht nicht ab, die katholische Kirche in Mülheim muss 387 Austritte in 2020 hinnehmen. Ein Verbot aus Rom sorgt für Wirbel.

Die katholische Kirche verliert weiterhin Mitglieder. 387 Mülheimer traten in 2020 insgesamt aus, 111 davon gehörten laut Stadtdekanat der Pfarrei St. Mariae Geburt an, in den anderen beiden Pfarreien waren es demnach zusammen 276 Gemeindemitglieder. Zahlen für 2021 liegen noch nicht überall konkret vor, wegen Corona werden sie verzögert veröffentlicht. In der Pfarrei St. Mariae Geburt weiß man bislang von 16 Personen, die ihrer Kirche in 2021 den Rücken zugekehrt haben.

Kirchenaustritt: Termin beim Mülheimer Amtsgericht erst Ende April

Nicht wenige haben das wohl noch vor. Beim Mülheimer Amtsgericht, wo man den Kirchenaustritt erklären muss, ist die Liste lang. Wer jetzt einen Termin beantragt, bekommt ihn frühestens Ende April. Austrittsgründe gibt es viele. Der Missbrauchsskandal – mit dem aktuellen Wirbel um Kardinal Woelki in Köln – und der folgende Erlass aus Rom spielen dabei wohl eine große Rolle. Die vatikanische Kongregation für Glaubenslehre hatte vor einigen Tagen darin die Segnung homosexueller Paare untersagt. Eine Anweisung, die viele Katholiken an der Basis entsetzt hat.

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„Es geht nicht mehr, jetzt muss ich austreten“, sagt beispielsweise Hildegard Schroeter-Spliethoff, die mit und in der Kirche großgeworden ist und lange für kirchliche Institutionen gearbeitet hat. „Ein Punkt kommt zum nächsten. Kindesmissbrauch, Diskriminierung von homosexuellen Menschen, fehlende Gleichberechtigung von Frauen, die Verurteilung von Verhütung und Abtreibung. Wann passiert in dieser Kirche mal etwas Menschenfreundliches?“, fragt sie. Die katholische Kirche sei keine glaubwürdige Institution mehr, sehr schweren Herzens habe sie sich zum Austritt entschlossen, den Kirchensteuerbetrag wolle sie lieber konkret an christliche Hilfsorganisationen spenden.

Katholische Kirche: Wann passiert mal etwas Menschenfreundliches?

Aber auch die meisten Seelsorger gehen mit der Anweisung des Vatikans wohl nicht konform. Ruhrbischof Dr. Franz-Josef Overbeck hat sie kritisch kommentiert. In einem Schreiben an alle Gemeinden im Bistum erklärt er: „Mich erreichen zahlreiche Rückmeldungen von Gläubigen und Seelsorgern, die über die in diesem Schreiben zum Ausdruck kommende Bewertung der Homosexualität empört sind.“

Die bloße Wiederholung der bisherigen lehramtlichen Meinungen zur Homosexualität werde nicht mehr verstanden und nicht mehr akzeptiert. „Im Gegenteil: Der dramatische Glaubwürdigkeits- und Plausibilitätsverlust der katholischen Sexualmoral selbst unter Gläubigen mit engster Kirchenbindung beschleunigt sich“, sagt Overbeck.

Pfarrer Christian Böckmann (li.), Christopher Frieling, Referent des Stadtdekanats, und Stadtdechant Michael Janßen (re.) in der katholischen Kirche St. Mariae Geburt in Mülheim im Dezember 2020.
Pfarrer Christian Böckmann (li.), Christopher Frieling, Referent des Stadtdekanats, und Stadtdechant Michael Janßen (re.) in der katholischen Kirche St. Mariae Geburt in Mülheim im Dezember 2020. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Gläubige und Seelsorger, so der Bischof, lehnten die lehramtliche Position der Glaubenskongregation offen ab – und das dürfe nicht ignoriert werden. Die Lehre der Kirche verlange dringend eine erweiterte Sichtweise auf die menschliche Sexualität. Die verengte Sicht sei auch „ein Teil des Nährbodens für die schreckliche Missbrauchsgeschichte in unserer Kirche“, so Overbeck, der für lückenlose Aufklärung der Missbrauchsfälle eintritt. Er fordert auch: „Es braucht eine ernsthafte und zutiefst wertschätzende Neubewertung der Homosexualität in unserer Kirche.“

Ruhrbischof Overbeck kritisiert Erlass aus Rom

Für Stadtdechant Michael Janßen ist die Verordnung aus Rom unverständlich und enttäuschend. „Lehramt und Tradition haben einen guten Sinn und Zweck, aber die Kirche muss auch die Zeichen der Zeit berücksichtigen. Erkenntnisse der Wissenschaften zum Beispiel müssen eingebunden werden in die katholische Kirche, die Sexualmoral muss überdacht werden“, meint er. Es habe in Mülheim schon einige Segnungsfeiern für homosexuelle Paare gegeben – als Folge seelsorgerischer Begleitung. Solchen Bitten wolle man auch weiterhin entsprechen.

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Pfarrer Christian Böckmann, zuständig für die Pfarreien St. Barbara und St. Mariä Himmelfahrt, weiß aus Gesprächen mit Gemeindemitgliedern, dass das Kopfschütteln über die Verlautbarung aus Rom groß ist, er will mit seinen Pastoralteams noch ausführlich darüber diskutieren. Für ihn selbst ist klar: „Wir schauen auf den Menschen und begleiten jeden Gläubigen in seinem ganz eigenen Leben.“ Eine Segnung habe er noch keinem homosexuellen Paar verwehrt und wolle das auch nicht tun.

Kirchenpolitische Machtfrage – „Das ist betrüblich“

Es gehe in diesem Fall aber nicht nur um diese konkrete Frage: „Hier wird eine kirchenpolitische Auseinandersetzung zwischen fundamentalistischen Kreisen und denen, die die Kirche zeitgemäßer gestalten wollen, auf dem Rücken von Menschen ausgetragen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung schon genug durchgemacht haben. Das ist betrüblich.“

Konservative Kräfte in der katholischen Kirche in Deutschland hätten wohl Zweifel an den Segnungen in Rom angemeldet und den Erlass aus Rom quasi „bestellt“ – als Spitze gegen fortschrittlichere Kirchenvertreter. Der Ton in dem Papier sei eiskalt. Christian Böckmann ist daher froh über die klare und kritische Stellungnahme des Ruhrbischofs zum Inhalt.

Weitere Informationen

Den Brief des Bischofs an die Gemeinden findet man auf der Website des Bistums unter www.bistum-essen.de.Die Originalnote der Kongregation zur Segnung homosexueller Paare kann man z.B. lesen unter www. vaticannews.va unter dem Stichwort Glaubenskongregation.Einen Podcast zu einer Diskussion mit Experten in der Wolfsburg zum Thema Kirchenaustritt kann man anschauen unter www.die-wolfsburg.de/aktuelles.

Im Missbrauchsskandal beschreite das Bistum Essen auch zukunftsweisendere Wege als andere Bistümer: In Köln würde das Thema rein juristisch und verwaltungstechnisch geprüft. In Essen beschäftige man sich jenseits der Aufklärung der Fälle auch damit, was systemisch falsch laufe in der katholischen Kirche, hinterfrage beispielsweise Machtgefüge. Damit nicht noch mehr Menschen aus der katholischen Kirche austreten, ist das wohl unabdingbar.