Gelsenkirchen. 10.000 Beschäftigte der Kitas oder Jugendämter aus ganz NRW sind in Gelsenkirchen auf die Straße gegangen. Es geht um die ganze Gesellschaft.
Ob das Vorzimmer des Mülheimer Bürgermeisterbüros verärgerte Anrufer in den nächsten Tagen erwarten kann? „Sie haben ein Kriegstrauma? Ruf Marc Buchholz an“ prangt auf dem Schild, das Philipp Schlichtenbrede hier in Gelsenkirchen durch die Menge führt, mitsamt Nummer des Mülheimer OBs. Dass jetzt immer mehr psychisch erkrankte Menschen aus der zerbombten Ukraine nach Deutschland kommen, man aber im sozialen Dienst der Kommunen überhaupt keine Kapazitäten hätte, die Menschen zu betreuen: Darauf will der 29-jährige Jugendamtsmitarbeiter aufmerksam machen. „Es wird extrem schwierig, dem Aufwand gerecht zu werden“, sagt er – und schließt seine Botschaft an Stadtspitzen aus ganz NRW an: „Sie sollten sich vor Augen führen, was sie gesamtgesellschaftlich anrichten!“
Immer wieder wird er an diesem besonderen Tag in Gelsenkirchen angesprochen: der gesellschaftliche Schaden der aus Sicht der rund zehntausend, aus Löhne oder Gütersloh, Essen oder Leverkusen angetretenen Streikenden verursacht wird. Weil Kitas wegen fehlender Erzieherinnen nur noch „Aufbewahrungsstätten“ seien. Weil der Mangel an Sozialarbeitern in Brennpunktschulen dafür sorge, dass man nicht nur massig Schulabbrecher, sondern auch „künftige Gefängnisinsassen“ produziere. Weil sich eben gerade die, die es am nötigsten hätten, einige wenige „ausgezehrte und überlastete“ Mitarbeiter teilen müssen. „Und wir müssen es dann ausbaden, wenn etwas schief geht“, sagt Erzieherin Claudia Siate-Dohon, die mit ihren Kolleginnen eigens aus Troisdorf angereist ist. „Das ist kriminell, was die mit uns machen.“
Gelsenkirchen: Auch symbolisch der richtige Ort für einen Riesen-Streik
Die Wut kocht hoch an diesem Mittwoch unter der heißen Sonne in Gelsenkirchen. Es muss lange vor Ausbruch der Pandemie gewesen sein, dass sich am Heinrich-König-Platz in der Altstadt so viele Menschen versammelt hatten. Dass die Gewerkschaft Verdi gerade hier vor der dritten Tarifrunde im Sozial- und Erziehungsdienst zum großen Warnstreik mit gleich drei Demonstrationszügen durch die Innenstadt aufgerufen hat, ist natürlich kein Zufall.
Gelsenkirchen rangiert in den Statistiken zu Kinderarmut oder zu Schulabgängern ohne Abschluss weit vorne, vor den möglichen dramatischen Folgen eines unterbesetzten Jugendamtes warnten erst vor wenigen Wochen noch besorgte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Gespräch mit der WAZ. Hauptgrund für die Entscheidung, Gelsenkirchen zum Epizentrum des Protests zu machen, ist allerdings, dass die Oberbürgermeisterin der Stadt eben auch Präsidentin der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) ist: Karin Welge (SPD).
Aus Sicht der Gewerkschaften jedenfalls hat „die VKA bislang keine brauchbaren Vorschläge in die Tarifauseinandersetzungen eingebracht“, wie Petra Müller, Erzieherin aus Gelsenkirchen, zur Eröffnung der Demo unter großem Applaus berichtet. „Das ist verantwortungslos!“ Buh-Rufe Richtung Welge sind da obligatorisch. Wie fühlt man sich da wohl direkt nebenan im Büro der OB, wenn sich plötzlich Menschen aus dem ganzen Bundesland gegen einen stellen?
VKA-Präsidentin Karin Welge ist optimistisch, dass Einigung bald gelingt
Auf die Wirkung, die der Mega-Streik auf sie hat, will Karin Welge auf Nachfrage gar nicht erst eingehen. Aber wohl lobt sie, „dass Gewerkschaften in der Lage sind, auch in bewegten Zeiten zu mobilisieren.“ Dass die Gespräche festgefahren sind, sei nicht der Fall. Im Gegenteil: „Wir befinden uns in konstruktiven Verhandlungen – übrigens auch noch exakt in dem Zeitplan, den wir zu Beginn des Jahres mit den Gewerkschaften vereinbart haben“, so Welge. „Fakt ist, wir nehmen die Bedürfnisse der Mitarbeitenden ebenso wie die Forderungen sehr ernst, sehen aber eine Lösung am Verhandlungstisch.“ Das Ziel sei weiterhin, in der kommenden Woche eine Einigung zu erreichen. „Und ich bin optimistisch, dass es gelingt, wenn auch die Gewerkschaften echten Willen zu einem guten Kompromiss zeigen.“
Wer den Menschen an diesem Tag zuhört, bekommt jedoch den Eindruck, dass nur eine 180-Grad-Wende für die Beschäftigten zufriedenstellend sein wird: Erzieherinnen aus Wuppertal berichten davon, dass „pädagogische Arbeit in den Kitas überhaupt nicht mehr möglich ist“, Sozialarbeiterinnen aus Kölner Hauptschulen davon, dass sie sich alleine um die Nöte von 350 Schülerinnen und Schüler kümmern müssen. Und ein Jugendamtsmitarbeiter aus Essen macht darauf aufmerksam, dass jetzt gerade nach Corona viel mehr depressive Kinder eine besondere Förderung bräuchten – sie jedoch nicht bekommen können, weil sich im Sozialdienst keiner mehr kümmern kann. Da seien sie, die gesamtgesellschaftlichen Leiden. „Eine ganze Generation leidet unter den Zuständen“, sagt der Essener.