Essen. Beim Filzen ist Fingerspitzengefühl gefragt. Ist der Anfang gemacht, sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt.
Dezenter Seifenduft liegt in der Luft. Ein Blick in das rote Schälchen auf dem Tisch verrät, woher er kommt. Im lauwarmen Wasser schwimmt ein hellgrünes Stück Seife. Nein, Heike Giesbert demonstriert nicht, wie in Corona-Zeiten richtig die Hände gewaschen werden, die Mülheimerin frönt ihrem Hobby: dem Nassfilzen. Damit dabei alles läuft wie geschmiert, braucht es eben Wasser und Seife. Sobald die 53-Jährige ihre Hände zum ersten Mal in die Schüssel taucht, schäumt sie über vor Glück.
„Ich bin filzsüchtig“, sagt Heike Giesbert und lacht. Die Wand voll bunter Wolle hinter ihr unterstreicht das. In jedem Fach liegt eine andere Farbe des Naturproduktes – bereit herausgenommen und verfilzt zu werden. Momentan bedient allerdings nur sie sich daran, sonst greifen auch Kursteilnehmer zu. Denn die Ökotrophologin schaut in ihrem Essener Atelier „Die KreAKTIVWERKstatt“ Fortgeschrittenen auf die Finger, lässt Kinderherzen höher schlagen und gibt Filz-Frischlingen Nachhilfe.
Löckchen im Vlies sorgen für Halt
Am Anfang kann es beim Filzen nämlich haarig werden, wie Giesbert selbst feststellen musste. „Eine Freundin und ich wollten vor gut zehn Jahren damit anfangen und sind grandios gescheitert“, erinnert sie sich. Damit die Wollfasern sich vernünftig verbinden, sind Fingerspitzengefühl und das richtige Material gefragt. Mit einem handelsüblichen Knäul, dessen Faden auch zum Stricken benutzt wird, funktioniert Filzen nicht.
Es braucht Vlies. Ja genau, wie das, nach dem in der griechischen Mythologie Jason und die Argonauten suchten. Allerdings stammt Heike Giesberts Vlies nicht von einem goldenen Widder, sondern von Tiroler Bergschafen. Die Haarpracht der Tiere wurde nur gewaschen und einmal kardiert, also zügig durchgekämmt. Danach ist die Wolle nicht ganz glatt, sondern noch leicht kräuselig – wie bei einer Dauerwelle. Löckchen wie die, mit denen Paul Breitner, Sepp Maier und Rudi Völler einst jedes Kopfball-Duell überstanden, sorgen auch beim Filzen für Halt.
Nicht zu viel Druck machen
Beherzt zupft Heike Giesbert dafür ein Stück Vlies ab und wickelt einen Halbedelstein darin ein, bis er nicht mehr zu sehen ist. „Das Einfilzen der Steine ist auch eine schöne Anfängerübung“, erklärt sie und taucht die Kugel ins Seifenwasser. Wenn das Vlies vollgesogen ist, beginnt die Hobby-Filzerin, es zwischen ihren eingeseiften Handflächen zu rollen. „Ganz vorsichtig. Ich darf nun nicht zu feste drücken. Filze ich mit Kindern sage ich ihnen immer, sie sollen sich vorstellen, ein kleines Vögelchen in den Händen zu halten.“
Drückt man zu fest, verbinden sich die Haare nicht. „Die Schuppen, die sich beim Aufquellen abgespreizt haben, werden mit zu viel Druck wieder flachgequetscht. Sie können sich nicht bei anderen einhaken.“ Das können sie übrigens auch nicht, wenn das Vlies mit zu viel Seife getränkt ist. Dann glibschen die Schuppen aneinander vorbei.
Stücke müssen erst einmal trocknen
Immer wieder taucht die Mülheimerin die Kugel ins Wasser und rollt sie, bis schließlich die erste Schicht Wolle verfilzt ist. „Fertig gefilzt ist es aber noch nicht. Dann könnte ich nämlich keine Fäden herausziehen. Noch geht das“, sagt sie und fummelt einen Faden aus dem Ball. Mit jeder neuen Vlies-Schicht verfilzen die darunterliegenden Haare aber immer mehr, bis schließlich ein fester Ball entsteht.
Aus dem gilt es nun nur noch alle Seifenreste herauszuwaschen und fertig ist das gute Stück – naja, zumindest nach zwölf Stunden Trockenzeit oder einer Runde in der alten Wäscheschleuder, die in der Ecke des Ateliers steht. „Dann schneide ich den Ball an einer Seite kreuzförmig ein und bekomme eine Art Blume aus der der Halbedelstein hervorguckt.“
Filz lässt sich in den Alltag integrieren
Mittlerweile traut sie sich längst an schwierige Filzereien. „Viele Menschen verbinden das Filzen mit dem Basteln aus der Kindergartenzeit, aber das ist es nicht. Es ist so viel mehr“, weiß Heike Giesbert, die eine dreijährige Ausbildung zur Filzgestalterin in Schwäbisch Hall gemacht hat.
Mit Produkten aus Filz lässt sich nicht nur die Wohnung dekorieren, sondern der Alltag bereichern. Ihrer Mutter filzte Heike Giesbert einen Hut und ihr Mann durfte sich über ein Yoga-Kissen freuen. Auch Pantoffeln, Rucksäcke, Wärmflaschenhüllen oder Eierwärmer (wie der kleine Frosch) sind machbar. „Das Filzen erlebt ein Auf und Ab. Mitte der 90er gab es einen Boom und dann ist es wieder abgeflaut.“ Nun greifen, dank des Do-It-Yourself-Trends, erneut mehr Bastler zu Seifenwasser und Vlies. „Es ist schön, etwas nach den eigenen Vorstellung erschaffen zu können. Außerdem lehrt das Hobby Geduld und ich bin von Natur aus ein eher ungeduldiger Mensch. Aber das Filzen ist schon fast meditativ.“ Und wer von uns kann in aufwühlenden Zeiten, keine extra Portion Gelassenheit gebrauchen? Oooommmm.
Das Essener Atelier:
Nach der Corona-Krise bietet Heike Giesbert im Atelier neben verschiedenen Filzworkshops für Anfänger und Fortgeschrittene wieder die offene Filzwerkstatt für Bastler mit Grundkenntnissen an und veranstaltet Kindergeburtstage. Mehr Infos zum Atelier gibt’s im Internet auf kreativwerkstatt.com
Beim Kauf von Merinowolle sollte darauf geachtet werden, dass die Schafe nicht das gängige „Mulesing“ erleiden mussten. Australischen Merinoschafen werden extra Hautfalten angezüchtet, damit mehr Wolle entsteht. An manchen Stellen stören diese Hautfalten jedoch und werden ohne Betäubung abgeschnitten.