Essen. . Der neue Krimi von Bestseller-Autorin Ingrid Noll (78), „Hab und Gier“, beginnt mit einem Fall von missglückter – weil verfrühter – Sterbehilfe. Im Interview erzählt sie, unter welchen Voraussetzungen sie Sterbehilfe für sinnvoll hält – und weshalb sie nicht von ihren eigenen Kindern gepflegt werden möchte.

Sie habe einen Hexenschuss, entschuldigt sich Ingrid Noll; vielleicht führten die Schmerzmittel zu verzögerten Reaktionen im Redefluss. Doch im Gegenteil wirkt sie äußerst lebendig: So, wie man es erwartet von einer, die erst mit Mitte Fünfzig zur Bestsellerautorin wurde – und nun im Alter von 78 Jahren ihren zwölften Roman veröffentlicht. Britta Heidemann sprach mit der Schriftstellerin.

Frau Noll, haben Sie mal mitgezählt, wie viele Romanleichen Sie inzwischen im Keller haben?

Ingrid Noll: Nein, ich habe den Überblick verloren (lacht). Am Anfang meinte ich, man soll mir bloß nicht vorwerfen, dass ich nur Männer umbringe, da habe ich noch mitgezählt und über eine Quotenregelung nachgedacht…

Ihre Mörder sind bisher immer davongekommen.

Noll: Das stimmt, es ist niemand im Knast gelandet, ich bringe es einfach nicht übers Herz. Manchen Lesern ist das nicht ganz recht, das weiß ich wohl! Aber ein schlechtes Gewissen oder eine moralische Ohrfeige verordne ich den Tätern zuweilen schon.

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Der erste Tote im neuen Roman ist ein krebskranker Mann, der erwürgt werden möchte, weil ihn das an erotische Momente seines Lebens erinnert. Ist das auch ein Statement zur Sterbehilfedebatte?

Noll: Unter bestimmten Voraussetzungen würde ich Sterbehilfe akzeptieren. Aber ich würde nie einem Depressiven assistieren, denn den könnte man therapieren. Auch keinem Jugendlichen, dessen Gefühle schwanken – heute himmelhoch jauchzend, morgen zu Tode betrübt. Ebenso wenig einem Menschen in einer akuten Krise. Der Wunsch nach einem schmerzfreien Tod müsste die Bilanz eines kranken, alten Menschen sein, der sich das lange überlegt hat und der wirklich nur noch Negatives zu erwarten hat. Dann sollte man Sterbehilfe zulassen, damit die leidenden Leute sich nicht aus dem Fenster stürzen oder unter die Bahn werfen müssen. Es sollte aber von neutralen Instanzen abgesegnet werden, damit kein Missbrauch möglich ist.

Sie beschreiben die Erkrankung dieses Mannes, des reichen Witwers Wolfram, sehr detailliert und kenntnisreich.

Noll: Zwei meiner Geschwister sind in letzter Zeit an Krebs gestorben, das habe ich sehr intensiv miterlebt. Ich war äußerst dankbar, dass man ihnen ausreichend Morphiumpflaster verordnet hat, so dass sie sich nicht gequält haben. Das hat ihr Leben vielleicht um zwei, drei Wochen verkürzt – aber dafür sind sie ganz friedlich eingeschlafen.

Ihre Mutter hat Ihre Großmutter bis zum 105. Lebensjahr gepflegt. Sie haben Ihre Mutter bis zum 106. Lebensjahr gepflegt – wissen Sie schon, welches Ihrer Kinder sich einmal um Sie kümmern könnte?

Noll: Alle drei haben es angeboten, aber mein Mann und ich wollen so lange wie möglich hier im Haus bleiben. Ich bin mir auch nicht im Klaren, ob ich wirklich zu meinen Kindern ziehen wollte. Sie haben ihr eigenes Leben, und ich weiß selbst, was Pflege bedeutet. Wir haben meine Mutter mit 90 zu uns genommen und das klappte gut, weil sie ein sehr eigenständiger Mensch war. Sie hat nie herumgejammert, war sehr dankbar, sehr höflich, niemals aufdringlich.

Finden Sie es bedauerlich, dass die Pflege von Angehörigen heute so ein seltenes Modell ist?

Noll: Man muss ja auch den Platz dafür haben! Wer hat denn schon ein Zimmer übrig? Bei uns ging es auch deshalb, weil ich zu Hause arbeiten kann. Aber auch bei uns war es mit Opfern verbunden. Mein Mann und ich konnten nicht spontan sagen, wir fahren heute mal nach Frankfurt, da gibt es eine tolle Ausstellung, und abends gehen wir dort essen. Wenn wir mal Urlaub machen wollten, musste eins meiner Geschwister aus Hamburg und Berlin anreisen, das wurde langfristig geplant.

Ihre Protagonistin, die pensionierte Buchhändlerin Karla, mag Kinder nicht so sehr und hat auch selbst keine. Am Ende aber kümmert sie sich rührend um zwei Ersatzenkel.

Noll: Ich habe selbst vier Enkelkinder. Und ich kann mir vorstellen, dass selbst Leute, die nichts mit Kindern zu tun haben wollen, weich werden. Für mich bedeuten Enkelkinder das reine Glück! Jetzt gerade habe ich zwei kleine Jungs im Haus – mein Mann passt auf, dass sie keinen allzu lauten Krach machen, während wir miteinander sprechen (lacht). Oft tue ich so, als würde ich lesen, und höre in Wahrheit zu, was die Kleinen so schwatzen. Das macht mir großes Vergnügen.

Können Sie denn auch junge Frauen verstehen, die keine Kinder haben möchten?

Noll: Es passt nicht in jeden Lebensentwurf. Ich kann das durchaus verstehen. Man muss auch den richtigen Partner finden. Bei meiner Tochter war das lange nicht der Fall, sie hat mit 40 Jahren ihr einziges Kind bekommen – und jetzt ist sie alleinerziehend. Das ist alles nicht so einfach.

Sie selbst haben mit dem Schreiben erst begonnen, als die Kinder aus dem Haus waren – ein Zeichen, dass Familie und Beruf doch nicht gut zu vereinen sind?

Noll: Ich habe vorher 20 Jahre lang in der Praxis meines Mannes mitgearbeitet, drei Kinder aufgezogen, war im Elternbeirat, habe im Chor gesungen und in der Volkshochschule Spanisch gelernt – ich hatte immer ein volles Programm! Und man braucht ja auch Ruhe zum Schreiben. Unsere Kinder haben viel Musik gemacht, ganze Bands probten hier, da wackelte und bebte es. Doch vor allem hatte ich kein eigenes Zimmer. Erst, als sie auszogen, wurde eines frei. Das war das beste Geschenk, das ich seit langem erhalten hatte.

Ihre Krimis spielen stets im bürgerlichen Milieu, Täter wie Opfer sind beinahe durchschnittlicher als Durchschnitt, vollkommen unauffällig. Sollten wir uns vor unseren Nachbarn stärker in Acht nehmen?

Noll: Naja, das sind doch nur Fiktionen! Über professionelle Kriminelle oder übers Rotlichtmilieu kann ich nicht schreiben, weil ich mich dort nicht auskenne. Ich lebe in einer bürgerlichen, vielleicht sogar etwas spießigen Gesellschaft. Gerade bei den braven grauen Mäusen, die mir ein bisschen ans Herz gewachsen sind, sieht es im Innern oft anders aus.