Essen. Sind unsere Schulen am Ende? Um diese Frage ging es in der neuen ZDF-Sendung „Precht“. Statt philosophischer Debatte kam die gegenseitige Beweihräucherung zweier Teilnehmer mit exakt gleichem Weltbild heraus. Das Debüt von Richard David Precht im ZDF hätte spannender ausfallen können.

Um steile Thesen sind sie beim Debüt von „Precht“ im ZDF nicht verlegen. „Macht lernen dumm?“ dröhnt es im Vorspann dieser neuen Sendung. Zwei Minuten später droht schon der Untergang des Abendlandes. „Wenn wir so weitermachen, wird es unser Land bald nicht mehr geben“, orakelt Hirnforscher Gerald Hüther. Sein Gesprächspartner bewegt den Kopf langsam auf und ab. Ja, das denkt er auch. In der nächsten Dreiviertelstunde wird Richard David Precht noch sehr oft nicken. Hüther könnte auch seine Bauchrednerpuppe sein. Oder umgekehrt. Auf die Spannung der Show wirkt sich das eher negativ aus. Auf die Überprüfung von Fakten erst recht.

Die Urangst der Gesellschaft sind "gebildete Bauarbeiter"

In China springen Kinder wegen Schulstress von Brücken, manche bringen ihre Eltern um, behauptet Hüther. Precht fragt nicht, wo er das gehört hat. Wichtig ist nur, dass wir auf dem Weg zu chinesischen Verhältnissen sind. Was läuft schief? Die Schulen häufen „Wissen ohne Gefühl“ an, vermiesen den Spaß am Lernen und schnüren die Kreativität ab, findet Hüther, findet Precht. Statt Lehrern wünschen sich die beiden „Potenzialentfaltungscoaches“. Als wäre das Wort nicht lang genug, legt Hüther nach: „Potentialentfaltungsprozesse spielen sich nur in der Gruppe ab.“ Ade, mündiges Individuum.

Sechs Jahre gibt Hüther dem aktuellen Schulsystem noch, dann werde es unbezahlbar. Warum steuert niemand dagegen, wenn sich der Niedergang so genau prognostizieren lässt? Precht und Hüther ahnen die dunkle Wahrheit. Es ist die Gesellschaft. „Stellen Sie sich vor, wir hätten 80 Prozent Abiturienten, das macht vielen Angst“, sagt Precht. „Wenn jeder Bauarbeiter ein Goethe-Zitat auf den Lippen trägt – das wollen viele gar nicht!“ Hüther ist hingerissen: „Da haben Sie den Finger genau in die Wunde gelegt!“ Da ist sie, die Urangst der Gesellschaft: gebildete Bauarbeiter.

Knapp eine Million Zuschauer für Precht

Richard David Precht hat zum Auftakt seiner neuen ZDF-Talk-Show am späten Sonntagabend 950.000 Zuschauer vor den Bildschirm gelockt. Das entspricht einem Marktanteil von 8,7 Prozent, wie das Zweite am Montag mitteilte. Für dieses Jahr sind drei weitere Ausgaben der Sendung geplant. Künftig soll Precht sechs Mal im Jahr mit prominenten Gästen aus Wirtschaft, Politik, Kultur oder Wissenschaft diskutieren. (dapd)

Precht will die Noten abschaffen

Dass sich die Schule selbst reformieren könnte, glauben die beiden nicht. Dafür profitierten zu viele vom System – Bürokraten, Politiker, Postenhuber, Sie wissen schon. „Wenn Sie den Sumpf austrocknen wollen, können sie nicht die Frösche fragen“, weiß Hüther. Ein Aufstand von unten müsse her, schließlich stecke in jedem Kind ein Hochbegabter. „Nichts ist mächtiger, als eine Idee, deren Zeit gekommen ist“, jubelt Precht, das onkelhafte Aphorismen-Pingpong fortsetzend.

Wie die Schule der Zukunft aussehen könnte, diese Antwort bleibt die Sendung weitgehend schuldig. Precht will die Noten abschaffen: „Stellen Sie sich diesen feinmechanisch begabten Menschenfreund vor, der nur deshalb nicht Chirurg werden kann, weil sein Notendurchschnitt nicht reicht.“ Hüther will die Zensuren behalten – nicht wegen der gemeinen Bewertung, sondern weil Kinder Feedback brauchen. Ansonsten gehe es darum, dass Gefühl und Lernen wieder zusammen kommen. Und dass sich Potenziale entfalten. Vielleicht mit Hilfe von Coaches. (WE)