Essen. . Ey, du Opfer! Oder etwa nicht? Anne Will findet mit ihren Talk-Gästen Gewinner und Verlierer des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens, viele Miseren, wenig Lösungen und nur einen gefälschten Gastarbeiter.

Anne Will kann die deutsche Mentalität erklären – und inzwischen muss es nicht mehr die des bemüht sozialkritischen Tatortgeschehens sein. Der neue Mittwochssendeplatz gewährt ihr, der gelernten Journalistin, neue Freiheiten.

So nimmt sich der TV-Talk aus aktuellem Anlass das deutsch-türkische Anwerbeabkommen vor, das vor 50 Jahren beschlossen wurde. Damals wurden – zunächst unter vielen Einschränkungen – etliche Gastarbeiter aus der Türkei nach Westdeutschland geholt, um den Arbeitskräftemangel, der damals herrschte, auszugleichen. Ähnliche Abkommen gab es zuvor schon mit anderen Ländern, beispielsweise Italien.

Hauptschulen, Kopftücher, Rollenbilder – und ein gefakter Türke

Doch bei Anne Will wird lieber über Hauptschulen, Kopftücher und Rollenbilder diskutiert als differenziert zu betrachten, was die Gastarbeiter geleistet haben und mitzubedenken, dass diese aus freien Stücken und ökonomischen Gründen gekommen sind. Das wäre ja wesentlich komplexer gewesen.

In der Runde saß auch kein Einziger, der das Gastarbeiterleben mitgemacht hat – außer Günther Wallraff. Der Journalist hat sich in den 80ern als türkischer Hilfsarbeiter Ali verkleidet, in eine Fabrik eingeschlichen, und später darüber das Buch „Ganz unten“ geschrieben. Er habe sich wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt gefühlt, berichtet der Undercover-Journalist: „Die Türken in Deutschland waren Sklaven“.

Und während sich der Schauspieler Tayfun Bademsoy, Kind einer Akademiker-Einwanderfamilie, darüber auslässt, dass die Wut der türkischen Jugendlichen eine von den Eltern geerbte ist, versucht Wallraff immer wieder dezent auf die Leistungen der Gastarbeiter hinzuweisen.

Das wäre aber ein Thema gewesen, bei dem nicht jeder hätte mitreden können, also wird es nicht aufgegriffen. Armer Wallraff.

Deutschlands liebster Brennpunkt

Es geht lieber zu Deutschlands liebsten Brennpunkt, den Hauptschulen in Berlin-Neukölln. Von dort berichtet am Anfang der Sendung der ehemalige Lehrer Wolfgang Schenk über die bekannten Respektlosigkeiten und Probleme.

Auch eine Gegenspielerin zu Schenk hat Anne Will gefunden: Die Erziehungswissenschaftlerin Özlem Nas. Naivität trifft auf Realität, modern-pädagogische Plattitüden auf Lehrer-Desillusionierung. Nas blickt fast schüchtern unter ihrem Kopftuch hervor – das natürlich im Laufe der Sendung auch noch ausgiebig thematisiert wird – wenn sie vom Recht auf Selbstbestimmung spricht. Anne Will versucht die Akademikerin aus der Reserve zu locken, doch nichts da. Nas bleibt „interkulturell korrekt“ und der Zuschauer wird von der Kameraführung immer wieder ermuntert, in ihrem Gesicht ihre wahren Gedanken zu lesen. Eine Mischung aus genervt und belustigt scheint dort sichtbar, selten sind wirkliche Emotionen zu erkennen.

Güner Balci als Gegenentwurf

Offener ist da Güner Balci. In Essen ist sie bekannt für ihre Dokumentation über die Karnap-Hauptschule, in Berlin für ihren Roman „Arabboy – Eine Jugend in Deutschland oder Das kurze Leben des Rashid. A.“ Die ehemalige Sozialarbeiterin weiß, wovon sie spricht, und tut dies pragmatisch jenseits der Stammtischparolen oder des Sozialkitsches. Gemeinsam mit Heinz Buschkowsky, dem Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, ist sie die Stimme der Vernunft unter den Opferfahndern, die immer nur die Schuldfrage stellen. Die beiden reden fundiert Klartext, ohne in Plattitüden zu verfallen.

„Ich will gar nicht wissen, wie viele Zuschauer jetzt denken: Ich kann es nicht mehr hören!“, sagt Buschkowsky als die Sendung gerade zur Hälfte vorbei ist und gibt zu bedenken, „dass die Opferrolle niemanden weiterbringt“. Er macht angenehm konkrete Vorschläge zu einer drastischen Umstrukturierung des Bildungssystems.

Und Balci erklärt die Diskriminierung, die der Schauspieler Bademsoy ankreidet, als übertrieben. „Wenn der Kontakt zur deutschen Mehrheitsgesellschaft komplett fehlt, kann von dieser auch niemand diskriminiert werden“. Die Gruppen würden einfach nie aufeinander treffen.

Wunschrealität in Einspielfilmchen

Das zeigt auch einer der Einspieler, gedreht von Wills Team in Köln-Ehrenfeld. Hier werden die üblichen Rentner vor die Kamera gezehrt, die aussagen, keinerlei Kontakt zu ihren türkischen Nachbarn zu haben.

Noch platter ist da nur das Einspielfilmchen mit türkischen Jugendlichen, kurz vorm Fußballspiel Deutschland gegen die Türkei – schön so portioniert, dass Mesut Özil als Buhmann dasteht, der in den Augen der Jugendlichen seine Identität verraten hat. Was das ist, die türkische Identität in Berlin am Kottbusser Tor, verrät der Film nicht. Wäre auch zu kompliziert gewesen.

Die Täter-Opfer-Karte und das Bildungssystem

So blieb Wills Gästen nur übrig, sich gegenseitig die Opfer-Täter-Karte zuzuschieben und diese dann an das Bildungssystem weiterzureichen. Da ist dann auch der Hauptschullehrer zufrieden.

Nur der arme Wallraff, der hat auch am Ende immer noch nicht über die ökonomische Bedeutung der Gastarbeiter sprechen dürfen.

Vielleicht beim nächsten Mal. (we)