Berlin. Seit drei Wochen lädt Sat.1 sein Publikum in eine Scheune bei Berlin. Dort soll eine neue Gesellschaft entstehen. Doch dazu fehlt noch eine Menge.
Schöne neue Welt. Das merkt auch der Zuschauer. Wer in den Livestream des Sat.1-TV-Projekts "Newtopia" reinlugt, bekommt sofort den Werbespot eines großen japanischen Autoherstellers serviert, auch die Kameras auf dem Gelände mit der alten Scheune in Königs Wusterhausen fangen gerne mal den schwarzen Pick-up ein, gern auch ausschließlich den Ausschnitt mit der glänzend schwarz und silber verchromten Kühlerhaube des geländegängigen Gefährts.
Die schöne neue Welt, die sich die 15 Freizeit-Aktivisten in der über ein Jahr geplanten Sat.1-Show "Newtopia" aufbauen sollen, dient erst einmal dem Sender und seinem Umsatz. Denn wer es wagt, sich die frei zugängliche Folge vom Vorabend anzugucken und einfach ein paar Minuten vorzuscrollen, wird bei jedem Klick auf die Schiebeleiste wieder mit der Auto-Werbung für seine Eigeninitiative bestraft. Und gleich nach dem Autospot wird noch eine Bankwerbung nachgeschoben.
Täglich knapp zwei Millionen Zuschauer
Drei Wochen läuft jetzt das Sozialexperiment, in dem laut Sat.1-Eigenwerbung die "Träume von einer besseren Welt auf die knallharte Realität" treffen. Wie ist die Resonanz? Sie ist weder herausragend noch schlecht. Nach einem guten Auftakt im Fernsehen flachte die Kurve jedoch ab.
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Knapp zwei Millionen Menschen schalten gegenwärtig die werktägliche Zusammenfassung aus dem von gut 100 Kameras überwachten Fernsehcamp ein, Montag waren es nur noch 1,64 Millionen. Der für den Sender wichtige Marktanteil bei Zuschauern zwischen 14 und 49 Jahren lag zum Ende vergangener Woche bei 12,3 Prozent, 12 Prozent waren angepeilt.
Das Netz macht durchschnittliches Aufhebens um die Befindlichkeiten und Versuche von 15 zusammengewürfelten Kandidaten, sich in einer neuen Ordnung zurechtzufinden. Rund 87.000 "Likes" hat sich die Facebook-Seite bislang eingehandelt, täglich werden rund 1000 Twitter-Tweets in die Netz-Welt geschickt, häufig angefeuert von der vom Sender und der Produktion verantworteten "Newtopia live", um die Gemeinde zu binden und zum Klick auf die "Newtopia.de"-Seite zu bewegen. Die Inhalte: Es geht meist ums fernsehübliche Lästern, weniger um Visionen einer neuen Community.
Ein neuer Staat lässt sich nur schwer realisieren
Das Neue hat ja auch seine Grenzen: ""Newtopia" gibt zwar vor, ein unvergessliches Experiment zu sein, kombiniert jedoch bestehende Formatelemente", sagt die Medienwissenschaftlerin Joan Kristin Bleicher. ""Big Brother das Dorf" und das Dschungelcamp werden im deutschen Wald zusammengeführt. Das eigentliche innovative Experiment, einen neuen Staat zu gründen, lässt sich angesichts der vorhandenen Rahmenbedingungen nur schwer realisieren. Wie soll eine neue Gesellschaft funktionieren, wenn nach wie vor die Regelungen der bestehenden Gesellschaft in das Leben eingreifen?"
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Damit trifft Bleicher tatsächlich die Argumentation des intern umstrittenen "Newtopia"-Kandidaten Candy (44). Der will einen autonomen Staat gründen. Zugleich fragte er aber vor der versammelten Gemeinschaft kritisch, wie das funktionieren solle, wenn in den Augen seiner Mitbewohner alles nur ein "Abklatsch" der bestehenden Bundesrepublik sein soll.
Ansonsten wird die neue Welt beherrscht von einer Verletzung, die sich Kandidat Hans beim Holzhacken zuzog, Isoldes Fast-Nackt-Auftritt bei strammer Kälte, Candys wildem Gepinkel und von herzzerreißenden Heimweh-Schluchzern, wenn die Briefe Angehöriger eintreffen, denn Kommunikation via Netz ist den Kandidaten nicht gestattet.
Handwerkbetriebe und Hotels profitieren von "Newtopia"
Immerhin: Die Region freut sich über das Interesse an "Newtopia": "Im Ort ist das Projekt nach meiner Wahrnehmung mehrheitlich anerkannt", sagte Königs Wusterhausens Bürgermeister Lutz Franzke (SPD) der Deutschen Presse-Agentur. Egal ob beim Einkauf oder im Sportverein - es herrsche eine positive Grundstimmung.
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Bereits im Vorfeld hätten Handwerkerbetriebe und Fahrdienste von "Newtopia" profitiert. Die Hotels haben nach Franzkes Angaben ebenfalls etwas davon: Die Produktion habe für ein Jahr im Voraus Zimmer gebucht und Vorkasse geleistet. Franzke guckt auch fern: "Ich bin auf dem Stand - das muss ich als Bürgermeister auch sein. Schließlich sind die Bewohner auch Einwohner der Stadt."
Eine neue Weltordnung wird zwar aller Voraussicht nach auf der Strecke bleiben, denn in Deutschland wird weder eine Räterepublik noch der Neo-Liberalismus ausbrechen. Ein Profiteur der Spielwiese im Fernsehen steht jedoch fest: Er heißt John de Mol, ist 59 Jahre alt, Holländer und hat gerade sein Unternehmen Talpa TV, das "Newtopia" mitproduziert, an das britische Unternehmen ITV verkauft. Er wurde auf einen Schlag um mindestens 500 Millionen Euro reicher. (dpa)