Bayreuth. . Der welterschütternde Kampf zwischen Göttern und Riesen endet mit einem Bandenmord vor einer Dönerbude in einem schäbigen Ostberliner Hinterhof. Frank Castorf führt in der “Götterdämmerung“ seine Bayreuther “Ring“-Interpretation fort, in der Wagners Personal konsequent demontiert wird.

Die kleine Gier der Großstadt-Gang um Hagen, Gunther und Gutrune erweist sich am Ende als genauso tödlich wie die große Gier von Wotan und Konsorten. Nur eine Figur bleibt authentisch und unzertrümmert: Brünnhilde, die Walküre, die als einzige zum selbstlosen Mitleiden fähig ist.

Das Buh-Geschrei und das Pfeifkonzert für die Regie blieben hinter den Erwartungen der Gegner der Inszenierung zurück. Denn die Wagnerianer, die Castorfs Deutung sehenswert finden, ließen sich die Produktion nicht kaputt brüllen, sondern setzten mit Beifall im Stehen dagegen. Buh-Rufe gab es auch für Lance Ryan, den Siegfried - vermutlich, weil der sich jüngst in einem Interview kritisch über die Aggressivität und sogar den Hass eines kleinen, aber lauten Teils des Bayreuther Publikums geäußert hatte.

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Castorf gelingt es gut, die Motivation der Figuren herauszuarbeiten. Das ist nicht unbedingt schön, aber spannend und bringt manchen Erkenntnismehrwert mit sich. Den stummen Zeugen, der die "Götterdämmerung" nun als Dönerbräter und vorzeitiges Mordopfer begleitet, wird man in kommenden Inszenierungen der Tetralogie sogar vermissen. In der "Götterdämmerung" hat Castorf auch die meisten kleinen Änderungen gegenüber dem Vorjahr eingearbeitet.

Wie der gesamte "Ring" lebt die "Götterdämmerung" von den Bühnenbildern Aleksandar Denics, die das Auge auf eine phantastische Reise zwischen Hinterhof, Plaste-und-Elaste-Fabrikfassade und New Yorker Börse mitnehmen.

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Siegfried hat nichts dazu gelernt, seit er seinen Ziehvater Mime erschlug. Während Brünnhilde von Babys träumt, ist der Held auf neue Abenteuer, sprich Krawall, aus. Doch der Schläger Siegfried, der hilflose Obdachlose zusammentritt, ist Hagen nicht gewachsen. Denn im Unterschied zu Siegfried, der zu dumm ist, sich zu fürchten, hat Hagen fürchterliche Angst: vor seinem Vater Alberich, vor dem ererbten "Ring"-Trauma, das er wie schweres Gepäck mit sich schleppt. Siegfried dagegen geht Gutrune schon an die Wäsche, bevor er ihren Namen kennt und hätte die Drogen vermutlich gar nicht gebraucht, die man ihm verabreicht, um Brünnhilde zu betrügen.

Die Übersetzung von Wagners Handlung ins Bandenmilieu großstädtischer Randgruppen erweist sich als stimmig - und die Bilder, die so entstehen, entfalten beängstigende Sogkraft. So erweisen sich zum Beispiel die Mannen Gunthers als urbanes Prekariat, das für ein paar Bier schnell bereit ist, gegen Außenseiter zu hetzen. Der Bayreuther Festspielchor singt mit überwältigender stimmlicher Präsenz.

Es gibt angefangen mit den Nornen viel Voodoo-Zauberei in der "Götterdämmerung", und das würde wirklich nerven, würde man es nicht als Castorfs Verbeugung vor seinem viel zu früh gestorbenen Kollegen Christoph Schlingensief lesen.

Doch alle diese Bilder wären nur halb so kraftvoll, wenn Maestro Kirill Petrenko die Partitur nicht als spannenden Thriller dirigieren würde: Wagners Musik klingt unter seiner Stabführung völlig unverbraucht und ebenso aggressiv wie glühend und bildmächtig. Die Bayreuther Hörner haben nicht ihren besten Tag, bei der Rheinfahrt und bei Siegfrieds Tod gibt es mitunter Anblasprobleme, aber das ist eben live.

Es ist der große Abend von Catherine Foster. Die Sopranistin zeigt auch in der "Götterdämmerung", dass sie eine Brünnhilde von Format ist, mit dunkelsüßem Timbre und der Fähigkeit, große vokale Dramatik und weit ausgeschwungene weiche Bögen gleichermaßen zu integrieren. Ihr Schlussauftritt ist sensationell: der Grabgesang einer Rachegöttin, die außer sich tritt. Regisseur Castorf lässt die Brünnhilde auch deshalb in Ruhe, weil Wotan bereits sein Mütchen an ihr gekühlt hat, als er sie so ungerecht in den Flammenring sperrte. Brünnhilde braucht sich also um keinen mehr zu scheren, mit den Göttern ist sie fertig, vor den Menschen hat sie keine Angst. Die Walküre will nur ein kleines Glück mit Siegfried im Wohnwagen, und als man ihr das auch noch nimmt, verbrennt sie alle Brücken hinter sich.

Lance Ryan singt in der "Götterdämmerung" freier als im "Siegfried", er meistert die Monsterpartie mit ungeheurer Kraft und einem großen Spektrum von Emotionen mit einem Tenor von edlem Metallglanz. Attila Jun ist ein Hagen mit großartigem schwarzen Bass, ein verzweifelter Ruheloser, der den Baseballschläger immer parat hat. Seinen Frieden findet Hagen erst, nachdem Brünnhilde den ersehnten Ring endgültig den zauberhaften Rheintöchtern zurückgegeben hat: im Totenboot, das ihn ruhig übers Wasser geleitet. Alejandro Marco-Buhrmester, den Opernfreunden aus Essen und Dortmund bestens bekannt, singt den Gunther mit farbenreichem Bariton als verwöhnten Kronprinzen, der in Hagen immer jemanden hatte, der die Drecksarbeit für ihn übernahm. Allison Oakes, die Wuppertaler Senta, ist eine stimmschöne verwöhnte Gutrune, die über den Intrigen um sie herum den Verstand verliert.

Frank Castorf ist Buhs, wie es sie in Bayreuth gibt, nicht gewohnt. Während er seinen Kritikern im vorigen Jahr sogar einen Vogel zeigte, versucht er nun, mit demonstrativen Umarmungen und Küsschen im Leitungsteam gegenzuhalten - achtbar, aber kein Vergleich mit Katharina Wagner, die die Buh-Orkane für ihre "Meistersinger" seinerzeit alljährlich mit stoischer Ruhe empfangen hat.