Bayreuth. Ein Held muss vom Sockel. Frank Castorfs “Siegfried“ ist in Bayreuth keine Lichtgestalt, sondern ein Soziopath. Dafür gibt es viele Bravos, aber auch entrüstete Buhrufe. Die Publikumsreaktion dürfte ein Vorgeschmack sein auf das, was Regisseur Castorf am Freitag nach der “Götterdämmerung“ erwartet.
Ein Held wird demontiert, und das gefällt längst nicht allen. Frank Castorfs "Siegfried"-Interpretation hat bei den Bayreuther Festspielen viele Bravo-Rufe geerntet, aber auch lautes Buh. Die Gegner der "Ring"-Inszenierung schreien sich schon einmal warm für die "Götterdämmerung" am Freitag. Denn es gehört zu den Merkwürdigkeiten auf dem Grünen Hügel, dass man nicht nur sein persönliches Missfallen kundtun möchte, sondern auch noch jene überstimmen will, die die Interpretation gut finden. Beifall im Stehen gab es für den Dirigenten Kirill Petrenko und viele Bravos für die Sänger.
Siegfried ist in Castorfs Lesart ein Soziopath, ein Terrorist, der zu dumm ist, um sich zu fürchten und deshalb weder Mitleid noch Erbarmen kennt. Das entspricht der bisherigen Linie von Castorfs "Ring"-Deutung, die bewusst Außenseiter wie Alberich und Mime in den Mittelpunkt rückt.
Für Siegfried sind Bücher nur zum Verbrennen da
So lernt das Publikum im ersten Akt eine neue Deutung des Begriffs Kaderschmiede kennen. Mime bedient Hammer und Amboss in einem Steinbruch, der von den überdimensionalen Köpfen von Marx, Lenin, Stalin und Mao beherrscht wird. Der Nibelung ist ein leidenschaftlicher Zeitungsleser mit großer Bibliothek. Für Siegfried sind Bücher nur zum Verbrennen da. Als mütterliches Erbe packt er zwei Kalaschnikows aus, während Mime im silbernen Wohnwagen im Akkord Möhren für den Gifttrank hackt.
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Ganz ohne Schwert kommt die Nothung-Szene natürlich nicht aus, sonst gäbe es Probleme mit der Maschinenmusik in der Partitur. Der stumme Zeuge ist wieder mit von der Partie, diesmal als wissensdurstiger menschlicher Bär, den Siegfried im Wald gefangen hat.
Spielfeld Alexanderplatz
Zweites Spielfeld ist der Berliner Alexanderplatz. Castorf macht den "Siegfried" zu einer Geschichte gescheiterter Großstadtexistenzen. Wotan ist völlig am Ende, der Drache Fafner entpuppt sich als Zuhälter, und Alberich hält trotz seines Scheiterns im Hintergrund die Fäden in der Hand.
Siegfried ist mit der Großstadt-Dynamik überfordert, und er löst seine Probleme mit Gewalt. Die märchenhafte Drachentötung wird zum brutalen Mord - ebenso wie Mime mit gleichgültiger Grausamkeit exekutiert wird.
Ist der Terrorist wirklich die Nachtseite des Helden? Und was passiert, wenn ein solcher Mann lernt, dass es Frauen gibt? Das grandiose Liebesfinale weist in Castorfs Lesart auf das katastrophale Ende der "Götterdämmerung" voraus. Denn Siegfried entdeckt zwar seine Gefühle, aber nicht persönlich auf Brünnhilde bezogen. Die beiden singen aneinander vorbei. Und während die Ex-Walküre in bräutlichem Weiß vor Liebe entbrennt, langweilt Siegfried sich bereits und rettet die nächste Maid aus den Fängen eines Untiers.
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Diese Demontage muss man nicht mögen, stürzt sie doch ein urdeutsches Idol vom Sockel. Aber sie liefert neue Erkenntnisse über die Motivation der Figuren, und das ist ja die Aufgabe von Theater. Abgesehen davon ist dieser "Siegfried", der sich sonst endlos in die Länge ziehen kann, recht kurzweilig - und wer sagt denn, dass bei Wagner nicht gelacht werden darf.
Das Beste für die "Götterdämmerung" aufgehoben
Stimmlich begeistert Catherine Foster als Brünnhilde mit einem "Heil dir, Sonne", das mit geradezu keuscher Glut in den Saal geschleudert wird. Wolfgang Koch überzeugt als Wanderer ebenso wie in den bisherigen "Ring"-Abenden als Wotan, das gilt auch für Oleg Bryjaks kalt abwartenden Alberich. Mirella Hagen ist als Waldvogel ein richtiger Paradiesvogel in der urbanen Wüste; Nadine Weissmann war als Erda die einzige Dame im "Rheingold", nun ist sie in die schwarzbestrumpfte High-Heel-Liga gewechselt, mit der Castorf seine Männerphantasien befeuert. Sorin Coliban müsste als Fafner einen noch viel schwärzeren Bass haben. Burkhard Ulrich ist als Mime mit Brecht-Brille erneut eine Sensation: er singt und spielt den Nibelung nicht als Karikatur, sondern als Menschen mit Herz und Hirn, der vom erlittenen "Ring"-Trauma nicht loskommt, was ihn böse macht. Aber im Grunde seines Herzens ist Ulrichs Mime ein Lehrer aus Berufung, sein Scheitern weckt Mitgefühl. Lance Ryan hebt sich als Siegfried das Beste noch für die "Götterdämmerung" auf, denn der Heldentenor hat zwar eine schöne, überzeugend eingesetzte Mittellage, aber die Höhen kommen noch zu verkrampft.
Im vergangenen Jahr hat Kirill Petrenko den "Siegfried" ganz aus dem bösartig schnarrenden Fafner-Motiv grundiert, das sich mit Kontrafagotten und Tuben aus dem Abgrund der Hörgrenze ins Bewusstsein schraubt. Jetzt setzt der gefeierte Maestro weniger auf Tiefenspannung als auf emotionale Extremzustände. Er nutzt Wagners zahlreiche Naturmotive, um die psychischen Ausnahmesituationen der Protagonisten nach Außen zu kehren. Und das legitimiert wiederum die Regie, denn bis auf die Brünnhilde tanzen die "Siegfried"-Protagonisten - aus der Partitur gelesen - alle auf der Rasierklinge.