Bayreuth. Bombastische Opern stehen bei den Wagner-Festspielen in Bayreuth im Mittelpunkt. Was abseits der Bühnen passiert, berichtet Kultur-Redakteurin Monika Willer in ihrem Festspiel-Tagebuch.

Freitag: Plick und Plock

Neben mir sitzt ein Kollege aus Dänemark, der zum ersten Mal die Wagner-Festspiele besucht. Und er ist ganz irritiert von dem ganzen Trappsen und Tappsen, das man allenthalben hört, auch während der musikalischen Gänsehautmomente. "Woher kommen nur diese Geräusche?", will er von mir wissen. Ich kann den Herrn aufklären. Es handelt sich um das dumpfe "Plock", das entsteht, wenn Damen ihre Sandalen oder Pumps abstreifen, weil sie an den vom Sitzen geschwollenen Füßen scheuern. Die Absätze knallen dabei vernehmlich auf den Holzfußboden. Und wegen der weltweit gerühmten Akustik hat jeder im Festspielhaus etwas davon. Ein etwas helleres "Plick" entsteht, wenn die Gäste Gegenstände mit ins Parkett nehmen und auf den Boden legen, die dort eigentlich nicht erlaubt sind, Schirme zum Beispiel. Weil es so eng ist, verheddern die sich irgendwann unvermeidlich mit den Beinen der Besitzer oder deren Nachbarn und werden dann geräuschvoll gegen die Metallbefestigung des Vordersitzes getreten. Nicht zu erklären brauche ich dem dänischen Wagnerianer die Laute, die direkt hinter und neben uns entstehen. Der Spanier an meiner linken Seite summt alles mit, was er kennt. Und der Hintermann versüßt uns die vier "Ring"-Abende mit herzhaften Schnarchern. Auch das ist Bayreuth.

Monika Willer berichtet für uns aus Bayreuth.
Monika Willer berichtet für uns aus Bayreuth. © WP Michael Kleinrensing

Donnerstag: Im Sitzen muss es sitzen

Der Dresscode ist in Bayreuth einerseits viel unbedeutender, als man meint. Denn im Lauf eines vierteiligen "Rings" lockert sich die Etikette genau so schnell wie die Krawatten der Herren. Diesem unglaublich komplexen Musikuniversum zu folgen, das ist Anstrengung genug, da will man sich nicht auch noch den Kopf darüber zerbrechen, was die Mitwagnerianer über das eigene Aussehen denken könnten. Andererseits gibt es nichts Überlebenswichtigeres als eben die Kleiderfrage, wie jeder bestätigen kann, der drei "Siegfried"-Akte mal in Sachen durchgestanden hat, die kneifen oder kratzen. Die größte Falle lauert jedoch nicht im Festspielhaus, sondern vorher beim Einkauf. Kleider probiert man in der Regel im Stehen an. Auf dem Grünen Hügel müssen sie aber im Sitzen sitzen. Und da kann es zu bösen Überraschungen kommen. Zum Beispiel, wenn die Oberweite, die in aufrechter Position bombensicher hält, sitzend plötzlich nach vorne klappt.

Mittwoch: Konsequent aufgetragen

Sie ist wieder da! Bayreuth ohne Angela Merkel ist irgendwie nur die halbe Miete. Denn die Kanzlerin ist eine von uns Normalfrauen, keine Kultur-Mutti, die vor jedem Opernbesuch ins Kaufrausch-Koma fällt. Was schick ist und bequem und ihr gut steht, das wird konsequent aufgetragen. Diesem Vorbild folgt man gerne; ich schleppe mein schwarzes Ensemble nun auch schon länger über den Grünen Hügel; Angela Merkel wählte für "Siegfried" das Blaue vom Vorjahr. Wagnerianer aus dem Ausland wundern sich immer, wie wenig Show die Kanzlerin um sich selber macht.

Das Festspielhaus läge ihr zu Füßen, doch sie huscht kurz vor dem Auftakt unbemerkt ins Parkett irgendwo in der Gegend von Reihe zehn, nix mit Loge, und hat diesen Nicht-Auftritt derart perfektioniert, dass selbst erfahrene Bayreuth-Experten nicht sagen können, ob sie nun drin sitzt oder nicht. Dass sie überhaupt kommt, merkt man an den diskreten Taschenkontrollen.

Die Wagnerianerin Merkel nimmt immer im selben, ganz normalen Hotel Quartier, wie wir anderen das auch tun, und es wird erzählt, dass sie völlig unkompliziert mit den Mitgästen frühstücken kann. Wenn sie privat in Bayreuth ist, bezahlt sie übrigens ihre Tickets selbst. Nur in einem einzigen Punkt sticht der Kanzlerinnen-Bonus. Angela Merkel muss in Bayreuth nicht auf die Warteliste. Im Unterschied zu uns Normalsterblichen kommt sie immer rein.

Dienstag: Ein Kissen gegen den Schuh im Kreuz

Ja! Ich habe es getan! Auch ich sitze jetzt mit einem Kissen im Kreuz im Festspielhaus. Lange habe ich all die Wagnerianer belächelt, die scharenweise mit allerlei Polstern unter dem Arm auf den Grünen Hügel marschieren. Unsereins ist von Natur aus gut genug gepolstert, dachte ich mitleidig.

Nun aber zwackt es mich allenthalben. Und die kluge Garderobenfrau gibt den Tipp: "Versuchen Sie es mal mit einem Kissen." Was soll mir das nützen, denke ich beleidigt und muss mich belehren lassen, dass man diese Hilfsmittel in ihren properen Gartenlauben-Dessins auf dem brettharten Holzklappgestühl hinter die Bandscheiben klemmt, um zu einer optimaleren Sitzhaltung zu gelangen.

Es funktioniert tatsächlich - und zwar gleich doppelt. Denn so spüre ich auch die spitzen Schuhe nicht mehr so arg, die mir die Hinterfrau vor lauter Aufregung ununterbrochen in den unteren Rücken rammt. Was macht man in einem solchen Fall überhaupt? Schweigend leiden? Oder üben, was "Bitte bohren Sie mir Ihre Schuhspitze nicht ins Kreuz" auf Japanisch heißt.

Montag: Ein Hotelzimmer als teure Halle

Dich, teure Halle, grüß ich wieder, jauchzt das Herz, wenn ich mein Festspielkämmerchen betrete. Es handelt sich jedes Jahr um dasselbe Zimmer im selben Hotel. Der Wagnerianer hasst Neuerungen, und darauf stellen sich die Bayreuther natürlich ein.

Unverändert bleibt die Praxis der Herberge, die Preise Saison für Saison zu erhöhen, so dass ich inzwischen in Euro doppelt so viel für die kleine Kemenate bezahle wie seinerzeit in D-Mark. Die Halle wird mir immer teurer.

Unverändert steht bei 30 Grad im Schatten die fränkische Bauernente mit Klößen auf der Speisekarte, die traditionsgemäß keiner bestellt. Und am meisten freue ich mich, wenn ich alle Jahre wieder jenen Fleck an der Wand über dem Nachttischchen entdecke, den ich einst vor langer Zeit selbst verursacht habe. Angeregt von Siegfrieds Kampf mit dem Drachen, erschlug ich an dieser historischen Stelle beherzt eine vollgesaugte Mücke. Alles beim Alten also. Wenigstens von den Bärenfellen und Flügelhelmen in den Inszenierungen sind sie im Festspielhaus weg - was aber auch nicht allen auf dem Grünen Hügel passt.

Sonntag: Der Trend geht zum Rock 

Über Damenroben zu lästern, das ist einfach auf dem Grünen Hügel. Doch mehr und mehr drängeln sich die Herren modetechnisch in den Vordergrund. Vorbei sind die Jahre, als Männer im schwarzen Abendanzug mit weißem Hemd eine recht uniformierte Wagnerianer-Schar bildeten. Heute ist alles erlaubt - und Lackschuhe zum Smoking bilden definitiv die Ausnahme. Der neue Trend geht aber zum langen Rock für Kerle. Zuerst waren es nur vereinzelte Besucher aus Fernost, die in ihrer landestypischen Rocktracht das Festspielpublikum optisch aufwerteten. Inzwischen entscheiden sich auch westliche Wagnerianer für schlichte, glatte schwarze Röcke mit dazu passenden kurzen Stehkragen-Jacken im Asia-Stil. Gut, das ist noch kein Masenphänomen, doch es fällt auf. Die Damen machen mit den Hosen ja schon lange vor, dass geschlechtsspezifische Bekleidungsregeln ausschließlich auf Konventionen beruhen. Vielleicht wollen die rockigen Herren in der stickigen Festspielhaus-Atmosphäre wenigstens untenherum ein frisches Lüftchen abkriegen.

Samstag: Götterdämmerung für die Wurst 

Die Hummerwurst ist vom Schicksal ereilt worden, und das ist nur gut so. Denn trotz aller Glanz- und Gloria-Ambitionen drängeln sich die Wagnerianer auf dem Grünen Hügel unbeirrt am Stand mit den fränkischen Rostbratwürstchen (2 Stück im Brötchen für 5 Euro) und nicht an der Theke mit den Lachshäppchen.

Aber der Wurstbräter wollte weltmännisch aufrüsten und hat Hummerwurst ins Angebot gestellt: durch den Wolf gedrehtes, in Pellen gepresstes und gegrilltes Hummerfleisch.

Der Run auf die bizarre Delikatesse war überschaubar. Die Hummerdinger verschrumpelten auf dem Rost, während Herren im Smoking vor lauter Gier kein Foul unversucht ließen, um sich in die Pole-Position an der Bratwurst-Ecke zu rempeln.

Nun soll die Trüffelwurst (7,50 Euro) den verwöhnten Gaumen erfreuen. Doch man muss keine von Wagners Nornen sein, um ihr ein ähnlich unrühmliches Ende zu phrophezeien. Eine beliebte Karikatur bringt die Sehnsucht des internationalen Publikums nach bodenständigen Genüssen appetitlich auf dem Punkt: Der ganze Saal, 2000 Männer und Frauen, ist in andächtigem, weihevollem Musikgenuss versunken. Da öffnet der Lehrjunge die Tür und trompetet: Sagt dem Maestro, er soll schneller dirigieren, die Bratwürscht sind fertig.