Essen. Doppelter Heimatboden: „Vor dem Fest“, der großartige Roman des 1978 in Bosnien-Herzegowina geborenen Autors hätte den Leipziger Buchpreis, für den er nominiert ist, allemal verdient. Er erzählt auf ungemein kunstvolle Art von Tattoos, Kirchenbüchern und anderen Höhepunkten der Uckermark.
Begnadigung, das klingt ja „als wären Schweine Verbrecher.“ Aber so ist das, wenn es in Fürstenfelde (Einwohnerzahl sinkend) ans Feiern geht. Eine von sechs Sauen landet nicht im Feuer, die Kita-Kinder wählen sie aus. Und doch: „Die Spieße für die verbleibenden fünf werden hinter dem Scheiterhaufen aufgestellt. Die Kinder dürfen kurbeln, so was bringt ja auch Freude.“
Es sind erst ein paar Kapitel vergangen, aber Saša Stanišić zieht uns längst am Nasenring durch diesen Flecken Deutschland, dessen Ortskenntnis man einem 1978 in Bosnien-Herzegowina geborenen Erzähler (und ein geborener Erzähler ist er!) kaum zutraut. Es ist die Uckermark, Merkel-Land, Brandenburg in voller Traurigkeit. Aus der seit Jahren äußerst ungern blühenden Landschaft ragen heraus: Tattoos, den Schriftzügen von Energy-Drinks ähnlich, die Notwendigkeit des Frühstücksfernsehens, ausgemusterte Briefträger, die für die Stasi Post geöffnet haben sowie die eineinhalb Nazis Rico und Luise (Luise eher „ein Halbnazi, weil sie den ganzen Scheiß nur Rico zuliebe macht.“).
Das ist nicht einmal ein Viertel der Menschen, von denen Stanišićs Roman „Vor dem Fest“ erzählt. Auch von den anderen haben wir uns am Ende kaum losreißen können, von der nachtblinden Heimatmalerin und dem alten NVA-Oberst, der doch lieber einen Zigarettenautomaten erschießt als einen alten NVA-Oberst, also sich.
Wollen wir ernsthaft fragen, was ausgerechnet Stanišić sich einbildet, den bösesten (und doch zuverlässig Heiterkeit auslösenden) Roman zum Mauerfall-Jubiläum 2014 vorzulegen? Nicht ernsthaft! Es ist dem Döblin-Preisträger ein so glänzendes Mosaik aus Lebenshaltungsschäden, aus schuldloser Tristesse und frohlockendem Stillstand geglückt, dass Staunen ein schwaches Wort ist.
Stanišić biedert sich weder sprachlich noch erzählerisch an. Sperrig mag manchem die unberechenbare Legierung der Ebenen und Töne scheinen. Aber womöglich macht die Distanz des im Balkan Geborenen ihn besonders tauglich, Worten ihren doppelten Boden abzulauschen – dort, wo er die Meute per Dativ zum Gedenken führt, nicht weniger als in jenen verstaubten Kirchenbüchern, in denen er die alten Wurzeln für neues Unglück sucht. Und findet.
Autorenmodisch klingt Stanišićs Ton nicht einmal, wenn er im Slang textet. Viel öfter denkt man dagegen an die schlanke Prosa Günter Eichs, die Naturmagie Bobrowskis, die Identitäts-Schattenspiele der Marie Luise Kaschnitz. Eine Nacht, eine einzige Nacht, beschreibt Stanišić. Dem titelgebenden Fest gelten nur ein paar Seiten. Vielleicht, weil es nichts zu feiern gibt. Vielleicht, weil man uns nicht dabei haben möchte: jene lesenden Zugereisten, die wir für großartige Stunden haben sein dürfen.
Saša Stanišić: Vor dem Fest, Luchterhand, 316 S., 19,90€. Als Hörbuch (hörverlag, 6 CD, ca. 9h, 19,99€) eine besondere Empfehlung. Trotz eigenwilliger Betonung und Balkan-Färbung: Stanišićs Autorenlesung ist ein Erlebnis!