Düsseldorf. Der Melancholiker als Energiebündel: Stefan Rottkamp inszeniert Goethes Briefroman "Die Leiden des jungen Werther" am Düsseldorfer Schauspielhaus.
Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erleben. Goethes Werther jedenfalls scheint auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Einen hüfthohen Schrankkoffer schleppt Ilja Niederkirchner eingangs auf die Bühne. Im Laufe der anderthalb Spielstunden zaubert er Webcam, Plattenspieler, Vinyl-Platten, Campingkocher und Kehrbesen hervor. Passt ja: Zickzack durch Raum und Zeit führen „Die Leiden des jungen Werther”, die Stephan Rottkamp im Schauspielhaus vorstellte.
Goethes Briefroman um den schwelgerischen Melancholiker hat viele Bühneninterpretationen erfahren. Mit Düsseldorf kommt eine weitere hinzu: Werther, der atemlos hechelnde Hektiker. Es ist eine enorme körperliche Leistung, die Niederkirchner seiner Figur zukommen lässt. Dieser Selbstmörder ist ein Energiebündel, dem man am liebsten Baldriantee in seine Campingtasse gießen möchte. Selten kamen Sturm und Drang so ausschweifend wörtlich daher.
Schweigen im Mai
Dafür hat Rottkamp den Text krass gekürzt. Schweigen im Mai des Romans – später, von Oktober bis Dezember, wird Werther leere Blätter auf den Boden legen. Dazwischen tragen die drei Figuren Brieffragmente vor. Am meisten überzeugt hier der vernünftige Albert (Milian Zerzawy). Dagegen kommt die patente Lotte (Friederike Linke) auf hohen Hacken im Partykleid daher. Als es beim Ball donnert, springt sie Werther mitten beim Engtanz auf den Arm.
Vieles wird angedacht – und nichts zuende geführt. Das Geburtstagslied „Schön dass du geboren bist” mischt sich nur bemüht mit Goethes Sprache – wenn Werther in die Webcam von „1000 mannigfaltigen Gräslein” spricht, wirkt das, als habe man ihn zwischen den Jahrhunderten in irgendeiner Klinik vergessen. Und überhaupt: Warum schreibt er auf Papier, wenn ihm PC-Equipment zur Verfügung steht?
So wünschen wir uns im Juni des Romans eine Tasse Campingkaffee, ist es bis August völlig egal, dass der Video-Mond kugelrund scheint, und Werther „Was ist uns die Welt mit einem Herz ohne Liebe?” philosophiert. Obwohl: Man müsste mal wieder die alten Vinyl-Platten hören.