Heiligenhaus. . Schauspieler André Eisermann gastiert mit seiner „spoken word performance“ im Heiligenhauser Immanuel-Kant-Gymnasium. Im WAZ-Interview spricht er darüber, was der Briefroman jungen Menschen heute noch sagt.

Der Schauspieler André Eisermann gastiert mit seiner „spoken word performance“ zu Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ am nächsten Dienstag, 28. Mai, im Immanuel-Kant-Gymnasium. Dort tritt er zusammen mit dem Pianisten Jakob Vinje vor Oberstufenschülern auf. WAZ-Redakteurin Petra Treiber sprach mit dem preisgekrönten Schauspieler André Eisermann, der gerade in Worms für die Nibelungenfestspiele unter der Regie von Dieter Wedel probt.

Sie interpretieren „Die Leiden des jungen Werther“ als Schauspieler. Wann haben Sie privat das erste Mal Goethes Briefroman gelesen?

Eisermann: Da ich als Sohn einer Schaustellerfamilie geboren wurde, hatte ich keine herkömmliche Schulbildung. Ich hatte circa 220 Schulwechsel in meinem Leben und somit ging der Stoff an mir vorüber. Es war die Stadt Wetzlar, die mich auf den Roman aufmerksam gemacht hatte. Goethe hielt sich als junger Mann dort länger auf und wurde dort durch eine Bekanntschaft mit einer gewissen Charlotte Buff dazu inspiriert, diesen Roman zu schreiben. Als im Jahre 1998 das neu renovierte Lottehaus eröffnet wurde, bat mich die Stadt, zu diesem Anlass aus dem Roman zu lesen. Und so kam es dazu, dass ich diese Geschichte kennen lernen durfte und ich muss sagen: Gott sei Dank! Das ist nämlich eine spannende, eine völlig abgefahrene Story – Popkultur total!

Werther verzweifelt an seiner unglücklichen Liebe zu Lotte und wählt schließlich den Freitod. Goethe schreib dies 1774, da war er selbst Mitte 20. Was bewirkte die Geschichte damals in der Gesellschaft und wie sieht das heute aus?

In der heutigen Gesellschaft bewirkt die Geschichte nicht mehr das, was sie damals auslöste. Damals hatten sich, nach dem Lesen der Lektüre, reihenweise junger Menschen in den Selbstmord gestürzt, wie es der „Held“ dieser Geschichte aus unerfüllter Liebe zu einem Mädchen tut. Die Sorgen und Probleme, seine Leiden und sein Liebeskummer sind die geblieben, die die junge Menschen noch heute haben. Denn auch sie sehen in ihrer Verliebtheit die Dinge oft so, wie sie sie gerne haben wollen und nicht, wie sie sind. Daher bleibt der Briefroman auch zeitlos und auf ewig aktuell.

Alice Thormählen bringt Eisermann und Schüler zusammen

„Meiner Freundschaft zu Alice Thormählen, einer ganz besonderen Persönlichkeit aus Heiligenhaus, ist mein Gastspiel zu verdanken“, berichtet André Eisermann. Kennen gelernt haben sie sich 2009 bei einer Reise im Südpazifik.

Der preisgekrönte Schauspieler, der mit seiner Darstellung des Kaspar Hauser in den 1990er Jahren zu Weltruhm gelangte, und dessen Film „Schlafes Bruder“ für einen Golden Globe nominiert wurde, war auf dem Kreuzfahrtschiff als Künstler engagiert. Dort sah ihn Alice Thormählen in besagter „Werther“-Lesung. Es stand für sie fest, Eisermann, der nicht nur Theater spielt, sondern auch in Opern und Musicals gesungen, Ballett getanzt, sowie ein Buch über sein Leben als Schaustellerkind geschrieben hat, zu unterstützen. „Alice Thormählen kennt meine Arbeit und möchte die jungen Leuten mit mir und Goethes ‘Werther’ zusammenbringen. Sie möchte helfen und anderen etwas weitergeben. In diesem Fall ist es mir eine große Ehre, für Sie etwas tun zu dürfen, was anderen und ihr gefällt, meinen Pianisten und mich glücklich macht und die Schüler motivieren wird. Ich freue mich schon so sehr darauf und bin Frau Thormählen sehr dankbar, dass sie uns zusammengebracht hat.“

Die Figur „Werther“ war in gewisser Weise stilbildend für die Zeit des „Sturm und Drang“, etwa auch in Fragen der Kleidung. Aber kann eine literarische Liebesgeschichte Jugendliche von heute noch berühren, die sich doch stark an anderen Medien orientieren?

Die Geschichte berührt noch immer. Gerade in einer Zeit, wo den jungen Menschen durch die Einflüsse der heutigen Medien, wie facebook, „Superstars“, Katzenberger usw. Intelligenz und Authentizität abhanden kommt und sie sich nach etwas sehnen, was ihr Bewusstsein erweitert, auch und gerade was Sprache betrifft. Daran mangelt es ihnen ja durch SMS und ähnlichem am allermeisten. Da wird ja nichts mehr ausgeschrieben und schon gar nicht ausgesprochen.

Musik trifft mitten ins Herz

Besteht die Gefahr, dass irgendwann die sogenannte klassische Literatur aus dem Unterricht verschwindet, wenn Lehrpläne weiter verdichtet werden angesichts verkürzter Schulzeit und immer mehr Wissensinhalten?

Klassische Literatur sollte auf keinem Fall aus dem Schulstoff verschwinden. Engagierte Lehrer, wie die des Immanuel-Kant-Gymnasiums in Heiligenhaus, machen es richtig. Sie holen sich einen Schauspieler, in diesem Fall meinen Pianisten und mich, der die Sprache so rüber bringt, dass es den Schülern auch Spaß macht, zuzuhören. Literatur kann sehr spannend sein.

So bedarf es also neuer Formen, um Jugendlichen die Klassiker näher zu bringen?

Natürlich braucht es neue Formen. Zum Beispiel die Musik, die von meinem Komponisten Jakob Vinje geschrieben wurde und der mich, während ich zum „Werther“ werde, live am Flügel begleiten wird. Es wird auch zuvor ein Bonbon von „Werthers Original“ zum Lutschen geben. Licht, Sound und Pathos pur. Das erreicht die Kids, auch weil Musik eben nicht intellektuell ist, sondern trifft und zwar mitten ins Herz!

Sie treten mit Ihrem „Werther“-Programm häufiger in Schulen auf. Wie reagieren die jungen Menschen auf Ihre Art der Rezitation in Form der „spoken word performance“?

Die Schüler freuen sich, sie sind wahrlich begeistert. Sie lachen auch viel über den „Werther“ – sie kennen seine Probleme. Sie weinen mit ihm und sie staunen und glauben oft nicht, dass das, was ich lese, von Goethe ist. Das, was die Jungs, also der Goethe, Schiller und Co. damals gemacht haben, praktizieren heute Typen wie Justin Bieber oder Tokio Hotel.

Haben Sie ein Lieblingsgedicht von Goethe? Wenn ja, welches?

„Wer nie sein Brot mit Tränen aß,

wer nie in kummervollen Nächten auf seinem Bette weinend saß, der kennt Euch nicht ihr himmlischen Mächte.“ (Aus „Wilhelm Meister“, 1795/96)