Essen. Regisseur Carlos Wagner ging mit seinen Figuren zunächst zum Psychologen, bevor er ihre Innenwelt jetzt auf der Opern-Bühne offenbart. Am Samstag feiert Jules Massenets „Werther“ Premiere im Aalto-Theater

Auf seiner deutschen Schule in Caracas gehörte Goethes 1774 erschienener Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ nicht zur Pflichtlektüre. Aber Carlos Wagner hatte davon gehört. Eine Selbstmordwelle soll er zu seiner Zeit ausgelöst haben. Dass das nicht ganz so stimmte, erfuhr der heute in Barcelona lebende Regisseur erst jetzt, als er sich mit dem Stoff eingehend beschäftigte. Für das Aalto-Theater inszeniert er Jules Massenets Vertonung, die 1892 erfolgreich in das Opernrepertoire einging. Sein „Werther“ erzählt die vertraute Geschichte des unglücklich Verliebten und der bereits vergebenen Charlotte. Dabei blickt er tief in die Abgründe der menschlichen Seele.

„Das ist keine Liebe, sondern eine Obsession“

Carlos Wagner strahlt eine Klarheit aus. Die begleitet ihn auch in seiner Arbeit, bei der er sich vor allem von zwei Aspekten leiten lässt. Das eine ist ein Satz der legendären Theatermacherin Ruth Berghaus. Bei einem Meisterkurs sagte sie ihm: „Wenn Sie sich treu sind, wird das Publikum ihre Ideen verstehen.“ Und er spricht über die Figuren seiner Opernproduktionen mit einem befreundeten Psychologen. „Er ist für mich wie ein Dramaturg“, meint der 51-Jährige. „Die Psychoanalyse ist für mich die absolute Basis meiner Arbeit. So kann man gut an Klischees vorbeikommen. Die Oper ist ja voll von Klischees.“

Rund um „Werther“

Premiere hat Carlos Wagners Inszenierung am Samstag, 30. November, 19 Uhr, im Aalto-Theater. Es gibt noch Restkarten.

Die musikalische Leitung hat Sébastien Rouland. Die Hauptpartien singen Abdellah Lasri (Werther) und Michaela Selinger (Charlotte). In weitere Partien erlebt man Heiko Trinsinger, Rainer Maria Röhr, Martijn Cornet und Christina Clark.

Die Zusammenarbeit zwischen Oper und Schauspiel setzt sich nach „Macbeth“ mit „Werther“ fort. In der Casa ist die Bühnenfassung von Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ am 23. Februar 2014 (Regie: Karsten Dahlem) zu sehen.

Karten für die kommenden Vorstellungen am 3., 5., 11., 13., 21., 25. und 28. Dezember gibt es unter 8122 200

Für ihn ist Werther nicht der junge Mann, den die große Traurigkeit über eine unmögliche Liebe in den Selbstmord treibt. „Es ist der Überschuss an Leben, der zu seiner Zerstörung führt. Er explodiert in der festgefahrenen Welt einer selbstdisziplinierten evangelischen Familie wie eine Naturgewalt“, erklärt Wagner. „Er ist manisch-depressiv, ein Alles-oder-nichts-Mensch, der keine Lösung findet.“ Und keine Beziehung zu seiner angebeteten Charlotte aufbauen kann. „Das ist keine Liebe, sondern eine Obsession.“ Warum sie Gefallen an dem Kranken findet, war eine der Fragen, die ihn beschäftigte - und er liefert die Antwort gleich mit: „Sie erfüllt immer die Erwartungen anderer.“ Selbstaufopfernd kümmert sie sich um die Kinder der mutterlosen Familie und sorgt dafür, dass eine Fassade aufrecht erhalten wird, hinter der es mächtig brodelt.

So entsteht in seiner Inszenierung ein Bild der Gegensätze. In der Musik sei es bereits angelegt, so Wagner. „Sie rüttelt einen emotional durch, kann aber auch melodramatisch oder rührselig sein.“ Angesiedelt zu Massenets Zeit setzen sich die extremen Kontrapunkte im Bühnenbild von Frank Philipp Schlößmann fort. Im Reigen der Jahreszeiten geht eine Puppenhaus-Idylle zugrunde. „Von einem Hyperrealismus wird es immer symbolischer“, sagt der Regisseur, der einmal Maler werden wollte. Er hat dabei die scheinbar ordentlichen Innenräume des Dänen Vilhelm Hammershøi im Sinn, in die ein Van Gogh einbricht.