. . Seiner tödlichen Erkrankung hat der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf noch kreative Seiten abgewonnen: Einen Blog über das Leben mit dem Tumor - und viele lasen mit. Nun ist das Buch zum Leben mit dem drohenden Ende erschienen.

Das Ende dieses Buches kennen wir schon. Der Held ist tot, er hat sich am späten Abend des 26. August 2013 am Ufer des Berliner Hohenzollernkanals das Leben genommen. Er hat sich so erschossen, dass die Kugel direkt das Stammhirn traf, darüber hat er viel nachgedacht vorher, wie man das am besten macht. Und er hat sich den Ort ausgesucht, an dem es passieren würde. Denn Wolfgang Herrndorf, so heißt der Held, hatte Krebs. Die Diagnose erhält er im Februar 2010; die Ärzte sprechen von einer „Raumforderung“ – und meinen einen Hirntumor.

Erst die Diagnose, dann der Produktivitätsschub

Der Diagnose begegnet er mit einem entschlossenen Produktivitätsschub. Zwei Romane, an denen er schon lange gearbeitet hatte, stellt Herrndorf nun fertig: „Tschick“ und „Sand“. Und er schreibt einen Blog, zunächst nur für Freunde, später, auf ihr Drängen, öffentlich. Er nennt es „Arbeit und Struktur“: Denn dies sollen die Dinge sein, die im Halt geben. Nun ist das wohl meistgelesene Blog des Literaturbetriebs als Buch erschienen.

„Gib mir ein Jahr, Herrgott, an den ich nicht glaube, und ich werde fertig mit allem. (geweint)“ - so lautet einer der ersten Einträge am 13. März 2010 um 11 Uhr. Am Nachmittag des gleichen Tages erinnert Herrndorf sich, wie er mit seinem Text „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“ bei der Bachmannpreis-Jury durchfiel: „Mir schleierhaft, wie ich damit in Klagenfurt gegen den handwerklich grotesken und pathetischen Tellkamptext verlieren konnte“. Kurz darauf folgt ein langes Elaborat über den „Trickser“ Thomas Mann (und, wie gnädig, „drei Dinge, die Tellkamp hinkriegt“). Wenige Zeilen weiter geht es um Bestrahlungen, Medikamente, um „Dr. Zwei“ und „Prof. Drei“ – erst ganz am Ende nennt er die Namen aller seiner Ärze, 22 sind es; ihnen ist das Buch gewidmet.

Erstaunliche Sogwirkung

Die Mischung aus profanem Literaturbetriebsgeflüster, Mediziner-Latein und Notizen über Urlaube oder Kinoabende mit Freunden entwickelt eine erstaunliche Sogwirkung: Denn in jeder Zeile ist der Autor ganz und gar da, ist er spürbar. Und selbst die dunklen, traurigen Momenten werden heller durch seine Intelligenz und seinen Humor: „Geträumt von einer amerikanischen Studie, die nachweist, dass Alleinsein Krebs macht. Wusste ich aber schon.“ Einmal kommen seine Freunde ihn im Krankenhaus besuchen, sie bringen die Zutaten mit, die es für einen Abend im „Prassnik“, ihrer Stammkneipe in der Torstraße, brauchte: Kartoffelsalat, Bier (in einer Thermoskanne), ein Handy-Video vom Wirt. Gute Freunde, echte. Einmal schreibt Herrndorf: „Ich hoffe, es kommt keiner auf die Idee, eine Annonce aufzugeben oder einen Kranz zu kaufen. Besauft euch im Prassnik.“

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Seine Freunde sind es auch, die ihm bei der Arbeit an den beiden Romanen helfen. „Tschick“ erscheint im September 2010, Herrndorf hofft auf den Jugendliteraturpreis – und bekommt ihn. 2011 wird er für „Sand“ den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten, weitere Auszeichnungen folgen. Herrndorf ist sich bewusst, dass seine Erkrankung nicht nur seinen Schaffensdrang befeuert hat. Sondern auch die Bereitschaft des Betriebs, diesen zu würdigen, seine besondere Situation zu berücksichtigen – oder auszunutzen. Kurz nach der Veröffentlichung von „Tschick“ notiert er: „Bekomme mit, dass der Verlag Bloglink mit Psychiatrisierungseintrag als Werbemittel rumschickt. Wahnsinn. Und nein, das ist nicht mit mir abgesprochen.“

„Mach ich aber nicht, mach ich nicht“

Was ihn freut: Briefe von Schülern, die „Tschick“ gelesen haben und als Hausaufgabe dem Autor schreiben sollen – „einwandfrei, hätte ich nicht gekonnt in dem Alter. Montessori-Schule, wahrscheinlich mit eingebauter Sozialkompetenz“. Als „Nachwehen der Briefe“ sieht er zunächst den Gedanken an ein Folgeprojekt: „Tschick-Fortsetzung aus Isas Perspektive angefangen. Mach ich aber nicht. Mach ich nicht.“ – so heißt es Ende 2011. Ab März 2012 aber ist die Rede von „Isa“, einem „Roadmovie zu Fuß“. Und kurz vor seinem Tod lesen Freunde ihm das Manuskript vor, sie hielten es „für machbar“.

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Es scheint, als dürften Herrndorfs Leser hoffen – auf ein weiteres Buch, wenigstens.

„Manie, Angst, Freude...“

Was hilft uns, wenn unserem Körper nichts mehr hilft, wenn wir wissen, dass wir sterben müssen? Für Herrndorf war es „Arbeit und Struktur“. Im Mai 2013 aber beginnt ein „dramatischer Sprachverfall“, sein Orientierungsvermögen verlässt ihn, er irrt durch bekannte Straßen und findet nicht mehr heim: „Ein Irrsinn jeder Tag. Gleichgültigkeit, Manie, Angst, Freude, Arbeit, Begeisterung wechseln im Minutentakt.“ Anfang August dann: „Abschied von meinen Eltern. Ich kann nichts sagen.“ Einige Tage später der Satz: „Ich bin sehr zu viel.“ Es ist einer der letzten, die er geschrieben hat. Wolfgang Herrndorf wurde 48 Jahre alt.

Das gedruckte Buch (Rowohlt, 448 S., 19,95 €), wurde von Kathrin Passig und Herrndorfs Lektor Marcus Gärtner bearbeitet und um Anmerkungen und ein Nachwort ergänzt.

Herrndorfs gefeierte Roadnovel „Tschick“, die sich allein in Deutschland über eine Million Mal verkaufte, wird am Theater Oberhausen als Outdoor-Stück rund um Kanal und Rot-Weiß-Stadion gezeigt. Termine gibt es wieder ab Mai. Ab Mitte Dezember bringt das Schauspiel Essen das Stück in seiner Casa auf die Bühne.