Essen. Von Samuel Pepys bis Thomas Mann, von Virginia Woolf bis Christa Wolf: Tagebücher sind eine faszinierende Lektüre. Heute schreiben Facebook-Posts und Weblogs eine Tradition fort, die immer schon auf die Öffentlichkeit schielte – und auch aus Banalitäten Leben saugte.

Gibt es eine antiquiertere Idee als die, ein Tagebuch zu führen? Die Seelenschau in stiller Kammer scheint längst verdrängt durch die Selbstbespiegelung in Echtzeit. Heute zeigen wir Gesicht: indem wir auf Facebook Urlaubs-Schnappschüsse posten, lustige Gedanken zum Weltgeschehen öffentlich machen oder gar Fotos eines besonders leckeren Sterne-Menüs einstellen (das darüber kalt wird). Und via Lifeline wird all das hübsch gesammelt.

Findet hier eine jahrhundertelange Schreibtradition ein trauriges Ende? Oder vielleicht auch nur – eine andere Form?

Die Grundsätze des „Erkenne dich selbst“ und des „Werde, der du bist“ galten einst als edelste Motivation eines Diaristen. „Ein Mann ohne Tagebuch“, notierte Schriftsteller Gottfried Keller, „verliert seine Haltung, seine Festigkeit, seinen Charakter, und wenn er seine geistige Selbstständigkeit dahin gibt, so wird er ein Tropf.“ Dass auch Frauen unter den bedeutenden Tagebuchschreibern zu finden sind, sei dabei nicht unterschlagen: Wenn nun Michael Maar in einer heiteren Zeitreise durch „Große Tagebücher“ reist, dann erinnert er an Samuel Pepys ebenso wie an Virginia Woolf. Und zugleich an eine weitere Funktion der täglichen Notate: die Rachsucht.

Rachsucht – und Voyeurismus

Zu herrlich sind die bissigen Einlassungen Woolfs gegen Zeitgenossin Katherine Mansfield, bei deren Tod ihr der Gedanke kam: „ja, wenn sie überlebt hätte, hätte sie weitergeschrieben, & man hätte gesehen, dass ich die Begabtere bin – das wäre nur immer offensichtlicher geworden.“ Ungestümer noch wetterte Tolstoi gegen seine Ehefrau – und auch gegen ihre unangenehme Eigenschaft, seine Tagebücher zu lesen! Schließlich führte er ein Geheimtagebuch auf Zetteln, die er in seinem Stiefel versteckte. Heute werden solcherlei Kriege gerne öffentlich ausgefochten: Boris Becker geißelt seitenweise die bösen Frauen in seinem Leben; manch’ Starlet führt längst per Twitter-Gewitter das schönste Beziehungstagebuch.

Auch die großen Schreiber widmeten sich oft überraschend kleinen Dingen, Banalitäten gar. „Heute bedeckt und kühl. Man hat die Heizung wieder in Gang gesetzt. Telephonarbeiter im Haus, einer mit Hasenscharte“ – ein Facebook-Post, oder? Nicht ganz: Ein Tagebucheintrag vom 4. Oktober 1933, geschrieben von Thomas Mann. Ebenso wie dieser: „Kaufte danach beim Konditor Pralinees und aß eine Schaumrolle für 1 Mark 75“ (21. März 1921). Ist es nicht gerade das Banale, das uns als Leser so fasziniert – die in der Zeit gefrorenen Momente, das Hier und Jetzt des Damals? Wenn ein Samuel Pepys 1660 in London ein ganz neuartiges Getränk zu sich nimmt, und dieses Getränk „Tee“ heißt – dann ist ein privater Moment unversehens zu einem Stück Geschichte geworden.

Der Blick ins fremde Schlafzimmer

Zugleich bedienen diese ganz privaten Notizen jene Ur-Lust, die auch dem Facebook-Erfolg zugrunde liegt: In fremde Wohn- und (besser noch) Schlafzimmer zu spähen, unserem Voyeurismus freien Lauf zu lassen – ein jeder ein kleiner NSA-Agent. Auch in der Wirkung ähneln sich also das historische und das moderne Medium.

Es bleibt, mit einer letzten Mär abzurechnen: der angeblich so stillen Kammer. Denn immer schon hatten viele, wenn nicht die meisten Tagebuchschreiber eine Veröffentlichung im Blick – ein Teilen und Sich-Mitteilen. Bei Max Frisch war das Tagebuchschreiben gar literarisches Programm, die Biografie galt ihm als ein Spiel, dessen Regeln er selbst aufstellte. Wenn er, wie Maar süffisant bemerkt, in seinen allergeheimsten Notizen schreibt „Nina, unsere Katze, hat wieder ein Junges geworfen; sie hat es gefressen“ – für wen hat er denn dann den Zusatz „unsere Katze“ angefügt, wenn nicht für die Leser? Und wenn Christa Wolf seit 1960 jeweils einen Tag im Jahr, den 27. September, zu ihrem Buch-Tage machte, war dies ebenfalls von Beginn an ein öffentliches Projekt. Ihr Motiv nannte sie die Pflicht, gegen den „unaufhaltsamen Verlust von Dasein“ anzuschreiben. Sind ihre Texte damit nicht auch Statusmeldungen?

Das Kleine als Spiegel des Großen, die Öffentlichkeit im Privaten: Es scheint gut möglich, dass selbst ein Thomas Mann (der seine ganz frühen Tagebücher vernichten ließ) oder eine Christa Wolf sich für die modernen Mitteilungs-Formen hätten erwärmen können.

Die These, dass im Netz nur Show und keine Seelenschau zu finden sei, widerlegte übrigens Schriftsteller Wolfgang Herrndorf jüngst und auf erschütternde Weise. Er führte ein öffentliches Blog seines Sterbens – das nun, postum, im Dezember als Buch erscheint.

INFO: Michael Maars Kulturgeschichte des Tagebuchs heißt „Heute bedeckt und kühl. Große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virgina Woolf“ (C.H. Beck, 259 S., 19,95 €).