Essen. . Mag Goethes „Werther“ den Deutschen ein bedeutender Roman sein - mit seinen Leiden als Opernheld haben sie sich schwergetan. Jules Massenets „Werther“ gehört nicht gerade zu den Repertoire-Rennern. Im Aalto-Theater war Samstag Premiere einer Neuinszenierung.

Undankbar diese Deutschen! Da macht der Franzose Jules Massenet aus ihrer Kultfigur (zugegeben: mit knapp 120-jähriger Verspätung) 1892 große Oper und sie wissen es wenig zu schätzen. Bis heute ist sein „Werther“ kein Renner. Noch 1977 war er Reclams Bildungsbürger-Kompass ein weißer Fleck: der Opernführer ließ ihn einfach aus.

Sänger und Orchester einhellig gefeiert

So fallen Mut und die Lust, Altes neu zu schätzen, zusammen, wenn Essens neuer Opernchef Hein Mulders diesen „Werther“ in seine erste Spielzeit aufnimmt. Samstag wurde das schöne Bildertheater gefeiert – Sänger und Orchester einhellig. Rare Buhs gab es für Carlos Wagners Regie. Sie könnten von Menschen kommen, die dem Abend vorwerfen, das Musiktheater nicht gerade ins 21. Jahrhundert zu führen. Gewiss: Dieser „Werther“ könnte auch eine 30 Jahre alte Regiearbeit sein. Spräche schon das gegen ihn?

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Frank Philipp Schlößmann, der bereits in Bayreuths „Ring“ wuchtig vom Kampf der Zivilisation mit der Schöpfung, erzählte, wiegt uns zunächst in Sicherheit. Sein Bühnenbild zeigt zwei puppenstubige Etagen bürgerlicher Heimeligkeit. Hier lernt der junge Jurist Lotte (herzensgut und fürsorglich, besonders im Brotschneiden) kennen. Die Seine bleibt sie nicht. Denn es gibt Albert. Er ist Lottes Verlobter und doch ein feiner Kerl: Dem Nebenbuhler leiht er eine Pistole.Der Rest ist bekannt: Mit Werther brachte Goethe den berühmtesten Freitod der deutschen Literatur zur Welt.

Einbruch in eine Welt aus Pflicht und Verantwortung

Was mit dem Menschen Werther in Lottes klare Welt aus Pflicht und Verantwortung eindringt, darüber lässt die Inszenierung wenig Zweifel: alle Macht der Natur. Es rollt Rasen ins traute Heim und mit der ungebändigten Liebe tanzen Blüten ins dumpfe Häuschen, unter dessen Dach sexuelle Übergriffe durch den Vater eine bekannte Größe sind.

Die Natur bricht mit Macht herein

Aber es ist eben auch die menschliche Natur des Stürmers und Drängers, die ihr Recht fordert. Carlos Wagner zeichnet Werther als durchaus Selbstbezogenen mit autistischen Zügen. Ihm folgt Zerstörung. Mit der Leidenschaft kommt der Verfall ins Haus. Das Laub so welk, wo doch Liebe grünen müsste. Am Ende wird selbst ein domestiziertes Pflänzchen zum Opferbild: Als Werther im Schnee der Weihnacht stirbt, folgt er jenem Christbaum nach, der längst gefallen ist.

Geraten die ersten Szenen noch ungelenk, weil Wagner den komischen Figuren unbeholfen gegenüber steht, schafft er mit dem Eintritt der verbotenen Liebe doch eine zwingende Spannung, die den schlüssigen Abend nicht mehr verlässt. Freilich ist das nicht allein der Regie und einem Reigen suggestiver Symbol-Bilder geschuldet, deren erstes der Mond über Wetzlar ist.

Auch schwerblütiger Pomp wunderbar durchleuchtet

Es sind auch die Essener Philharmoniker (allen voran Blech- und Holzbläser) , die mit dem einstigen Minkowski-Assistenten Sébastien Rouland alle plakativen Gefahren feinnervig umschiffen: Noch Massenets schwerblütiger Pomp wird fein durchleuchtet. Die Sänger machen ersten Häusern Ehre. Michaela Selinger singt ihre Lotte ohne oberflächliche Effekte, ihr samtiger Mezzo strahlt anmutig von innen. Abdellah Lasri tut sich im Spiel eher schwer, für den Werther bietet er vor allem als lyrischer Schmerzensmann vorzügliche Qualitäten. Zwei weniger dankbare Rollen adeln Heiko Trinsinger (ein fast belcantischer Albert) und Christina Clark: als Lottes Schwester in grandioser Form.

Ist der Abend, an dem es reichlich schneit, am Ende gar zu schön? Aber nein, es ist doch das alles schon traurig genug. Ein ästhetisch-adrett verpacktes Weihnachtsgeschenk für Opernfreunde kommt da gerade zu rechten Zeit.