Washington. Lässt man solche Helden sterben? Als Kind entkam der kleine Danny seinem irren Vater in den Schneewehen um das berüchtige Overlook-Hotel. 36 Jahre später erzählt US-Bestesellerautor Stephen King, was aus dem Kind von „Shining“ wurde - in seinem neuen Roman „Doctor Sleep“.
Es ist literarisch nicht zwangsläufig von Segen, wenn der Täter nach vielen Jahren an den Tatort zurückkehrt. Nicht, wenn die geschriebenen Umstände so einzigartig verfilmt wurden wie damals, als hinter Danny Torrance der Boiler im unheilvoll verschneiten Overlook-Hotel explodierte und die Wucht seinem irren Vater Jack Mordlust und Beil für immer aus der Hand schlug.
„Shining“, die nervenzehrendste Versuchung, seit es Bibbern und Schlottern zwischen zwei Buchdeckeln gibt, hat Mitte der 70er-Jahre einer jede Seite mit feucht-klammen Fingern umschlagenden europäischen Öffentlichkeit gezeigt, wo das echte Grauen wohnt – in der Normalität des braven amerikanischen Mittelschichten-Alltags. Manche Leser sollen sich bis heute von dem Lese-Schock nicht erholt haben.
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36 Jahre später hat Stephen King dann doch mal nachgeschaut, was aus Danny Torrance geworden ist. Ein in jeder Hinsicht lohnendes Experiment. „Doctor Sleep“, der 56. Roman des weltweit über 400 Millionen Mal verkauften Doyens der schreibenden Psychosen-Produzenten, steht ab Montag, 28. Oktober, in den Regalen des deutschen Buchhandels. Es ist ein Wachmacher mit der Wirkung eines dreifachen Espresso geworden. Nach den 544 Seiten in der Originalfassung ist an Schlaf nicht zu denken. Wichtigste Erkenntnis: Zimmer 217 ist doch nicht der unangefochten schlimmste Ort der Welt.
Im Schweinsgalopp durch Zeit, Raum und düstere Gedankengänge
Wie immer packt der mittlerweile 66 weise Jahre alte Hochspannungserzeuger aus Maine den Leser unbarmherzig am Schlafittchen und schleift ihn im Schweinsgalopp durch Zeit, Raum und düstere Gedankengänge. Bei der Lektüre nimmt nicht nur der Kopf den Text auf. Streckenweise kriechen die Szenen unter die Gänsehaut, als hätten sie osmotische Fähigkeiten.
King hat aus Danny einen anfangs versoffenen Taugenichts werden lassen, der die quälenden Erinnerungen an seinen tosenden Vater nicht los wird. Torrance junior, Mitte vierzig, begibt sich in die Hände der Anonymen Alkoholiker und lebt in einer unspektakulären Kleinstadt als Sterbehelfer. Dank seiner übernatürlichen Begabungen, die ihn mit dem Jenseits und seinesgleichen kommunizieren lassen, verhilft er den Bewohnern eines Altenheims zu einem friedvollen Abschied. Nachdem sich zuvor, typisch kauziger King, eine Katze, die den Tod voraussagen kann, an die unheilbar Kranken ein letztes Mal angeschmiegt hat.
Bösartige Untote
Dann plötzlich taucht sie auf: „Abra“ Stone, wie in „cadabra“, ein junges Ding von 12 Jahren, randvoll mit paranormalen Begabungen (einer gewissen „Carrie“ nicht unähnlich) und einem ziemlichen Problem. Eine in aberwitzigen Wohnwagen durchs Land marodierende, jahrhundertealte Oldie-Gang, die „True Knot“, sind hinter ihr her. Die bösartigen Untoten foltern und töten Kinder, die das zweite Gesicht haben, das „Shining“ eben. Nicht zum Selbstzweck. Der Odem der Sterbenden ist ihr Lebenselixier. Abra hat davon so viel wie Luke Skywalker „Macht“ besaß. Danny Torrance muss ihr helfen. Wie er das tut und wie die Psycho-Vampire um die grausame Rose gerichtet werden, sei nicht verraten. Hannibal Lecter, nur so viel, war waisenknäbisch dagegen.
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Wer vor der Lektüre das Ursprungswerk von 1977 zur Hand nimmt, stellt befriedigt fest, dass Kings Erzählfluss werthaltiger geworden ist. Der Amoklauf an der Schreibmaschine ist einem ausgeklügelten Feldzug gewichen. Man merkt, dass King seit 25 Jahren weder kokst noch trinkt. So entstehen Sätze von erhabener Schönheit. „Wir müssen alle sterben“, heißt es an einer Stelle, „die Welt ist nur ein Hospiz mit frischer Luft.“
Lachen in der Seelenhölle
Und doch: „Doctor Sleep“ ist nicht der permanente Blick in den Abgrund der Seelenhölle. Man muss oft lachen. King hat ein zum Fürchten warmes, lehr- und unterhaltsames Buch geschrieben. Es zeigt den Autor als einen Mann, der nicht länger der Gefangene seiner Dämonen ist. Aber sehr wohl weiß, wo er sie findet, wenn er sie braucht. Wie er das geschafft hat, kann man ihn bald in Deutschland selber fragen. Stephen King kommt am 19. November zum Krimi-Festival nach München. Tags drauf weckt „Doctor Sleep“ Hamburg auf.