Frankfurt/Main. Laienkritiker werden immer mehr wahrgenommen, Berufskritiker immer weniger gelesen, Großkritiker wie Marcel Reich-Ranicki gehören der Vergangenheit an. Das gedruckte Feuilleton verliert an Bedeutung. Die Literaturkritik wird demokratischer, sagen Experten, aber auch weniger differenziert.
Einen Literaturkritiker wie Marcel Reich-Ranicki wird es nie wieder geben. Das liegt nicht nur daran, dass die Kombination aus Kompetenz und Kommunikationstalent, die "MRR" auszeichnete, ein seltener Glücksfall war. Die Literaturkritik selbst ist im Wandel begriffen: Ein derart dominanter Meinungsführer ist in Zukunft nicht mehr denkbar.
Dass Reich-Ranicki einen Ruf hatte wie Donnerhall, lag vor allem an der früheren ZDF-Sendung "Das Literarische Quartett". Als "FAZ"-Feuilletonist war "MRR" angesehen, aber ein derart breites Publikum erreichte er dort nicht. Während ihrer Hochphase hatte die Fernsehshow mehr als eine Million Zuschauer. Als die Sendung 1988 zum ersten Mal ausgestrahlt wurde, steckten die Privatsender noch in den Kinderschuhen.
Auch das gedruckte Feuilleton verliert an Bedeutung. Die Literaturkritik drohe "marginalisiert zu werden", schrieb die "Neue Zürcher Zeitung" kürzlich in einem Artikel, der sich fast wie ein Nachruf las. Ein Grund ist der Auflagenverlust der Print-Medien. Die Hauptgefahr aber heißt "nicht Schrumpfung, sondern Digitalisierung". Einfach nur gedruckte Inhalte ins Netz zu stellen, funktioniere nicht. Der digitale Leser sei ungeduldiger, intoleranter gegenüber allem Weitschweifigen, er wolle es "laut, schnell, schrill".
Leserkritik spielt immer wichtigere Rolle
Noch immer geben Verlage große Summen aus für Anzeigen in den Literaturbeilagen. Bald aber werde es wichtiger sein, Geld in Suchmaschinen-Optimierung zu investieren, sagt Ralph Möllers, Kleinverleger und Mitbegründer der Literatur-Plattform "Flipintu". Das Online-Magazin fischt unter anderem - abgestimmt auf die Interessen des Nutzers - Kritiken aus dem Netz. Das Internet habe die "Deutungshoheit" des Feuilletons längst gebrochen, meint Möllers.
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Anna Rokosz hat ein Buch geschrieben über Literaturkritik "zwischen Bestsellerlisten und Laienrezensionen". Sie sieht eine "Demokratisierung der Literaturkritik": "Das Diktieren des Geschmacks von oben" gehöre der Vergangenheit an, "Leserkritik als neue Kritikform spielt eine immer wichtigere Rolle". Auch die Nutzungsgewohnheiten veränderten sich: schneller und oberflächlicher werde die Kritik, zwangloser und unautoritärer die Sprache.
Amazon bestreitet Manipulationsvorwürfe
Der Versandhandel mit Büchern boomt. In Marcel Reich-Ranickis frühen Jahren kaufte man Bücher ausschließlich in der Buchhandlung. 2012 ging der Umsatz im Sortimentsbuchhandel laut Börsenverein des Deutschen Buchhandels um 3,7 Prozent zurück, der Online-Handel wuchs um 10,4 Prozent. Entsprechend werden auch Laienkritiker immer mehr wahrgenommen, die ihre Einschätzungen etwa bei "Amazon.de" kundtun.
Marcel Reich-Ranicki ist tot
Einer, der jahrelang solche Kritiken schrieb, ist Thorsten Wiedau. Nach 3500 Rezensionen hörte er auf - und schimpfte danach lautstark über angebliche Tricksereien: "Das Perfide an dem System ist, dass es die Rezensenten ganz klar manipuliert, zugleich aber Unabhängigkeit suggeriert", polterte er unter anderem im Branchenmagazin "Buchreport". Kritiker würden im Rang heruntergestuft, wenn sie Verrisse schrieben, die den Verkauf des Buchs erschwerten. Amazon bestreitet den Manipulationsvorwurf. Man greife "grundsätzlich nicht in die Meinungsäußerung der Kundenrezensionen ein".
Es ist ein kleiner Treppenwitz der Mediengeschichte, dass die Nachricht vom Tode Reich-Ranickis zuerst im Internet auftauchte - über Twitter. (dpa)