Marcel Reich-Ranicki war der Mann, der Autoren machte
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Essen. . In Frankfurt ist der große Literaturkritiker, Essayist, Fernseh-Entertainer und Holocaust-Überlebende Marcel Reich-Ranicki mit 93 Jahren gestorben. Er überlebte das Warschauer Ghetto und wurde zur einflussreichsten Stimme der deutschen Literaturkritik nach 1945.
Seine letzte große Bühne fand er im deutschen Bundestag, wo er vor zwei Jahren die Rede zum Holocaust-Gedenktag hielt. Er sprach schlicht, in ungewohnter Bescheidenheit, als Zeitzeuge, er erzählte, vom allmählichen Voranschreiten der Vernichtung, und er sparte auch den bewegenden, anrührenden Moment nicht aus, als er kurz vor der Deportation im Warschauer Ghetto noch „Tosia“ heiratete, die Frau, die fast sieben Jahrzehnte an seiner Seite bleiben sollte, allen Affären und Anwürfen zum Trotz.
Reich-Ranickis Eltern aber starben in den Gaskammern von Treblinka. Und nicht einmal seine geliebten Bücher beantworten die eine Frage, die ihn, den Überlebenden umtrieb: „Warum wurden wir gerettet?“ Sein ausgeprägter Mangel an Geduld und Nachsicht dürfte eher ein Echo solcher Erfahrungen gewesen sein denn eine bloße Laune.
Literatur war für Reich-Ranicki Ersatzreligion
Bildung, Literatur, das waren Ersatzreligionen für den Atheisten Reich-Ranicki. Als aus dem polnischen Fabrikantensohn, der mit neun Jahren nach Berlin übersiedelte und die deutsche Kultur aufsog, 1938 ein Geächteter geworden war, den die Nazis nicht studieren ließen, hat er sich an die Literatur geklammert. Mit ihr als Korsett und Rüstung überlebte er das Warschauer Ghetto.
Marcel Reich-Ranicki ist tot
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Der eigentliche Sieg des Marcel Reich-Ranicki über seine Widersacher aber lag darin, dass er nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Kristallisationspunkt des deutschen Geisteslebens werden sollte. Zunächst als Mitglied der legendären Gruppe 47 aus Kritikern und Autoren, in die ihn sein Freund Siegfried Lenz einführte. Als Literaturkritiker wurde er rasch tonangebend, zunächst in der Wochenzeitung „Die Zeit“ bis 1973 und dann für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, wo er das Literaturressort übernahm und auch zum Literatur-Chef aufstieg. Dort wurde MRR, wie er allseits ehrfürchtig genannt wurde, der Mann, der Autoren „machte“. Er dirigierte das Bachmann-Wettlesen in Klagenfurt, er knickte Autorenkarrieren oder streckte sie. Streitbar, verletzend, mitunter auch geschützt vom Nimbus des Holocaust-Überlebenden, ein Enfant terrible. Und zutiefst durchdrungen von der Mission eines Kunstrichters.
Der Literaturkritiker Reich-Ranicki war unfehlbar? Nicht immer!
Du sollst keine Zweifel an deinem Urteil lassen – vielleicht war es so etwas wie sein elftes Gebot, das Marcel Reich-Ranicki irgendwann den Vornamen Literaturpapst einbrachte. Den Gestus der Unfehlbarkeit, mit dem der Literaturrichter Reich-Ranicki Urteile zelebrierte, teilte er mit anderen Päpsten. Aber er war kein Unfehlbarkeitsdogmatiker: Der Widerruf seiner beinahe historischen Fehleinschätzung der „Blechtrommel“ von Günter Grass kam nur drei Jahre nach dem vehementen Verriss.
Als Pensionär schließlich gelang ihm die zweite große Karriere seines Lebens, die ihn auch für viele Menschen jenseits der intellektuellen Zirkel zur bekannten Größe machte: Als Chefdirigent des „Literarischen Quartetts“ im ZDF machte er die Buchkritik salonfähig, ja mehr als das: massentauglich. Wieder „machte“ MRR Autoren wie Harold Brodkey oder Javier Marias. In der Literatur-Talkshow mit dem meinungselastischen Kritikerfreund Hellmuth Karasek und der intellektuell mindestens satisfaktionsfähigen Sigrid Löffler wurde Reich-Ranicki zur Fernsehfigur, die dankbar parodiert wurde. Die überschaubare Zahl seiner Argumente und Kriterien ließ ihn mit der Zeit berechenbar werden. Er kompensierte das allerdings mit dem Reden über Erotik, mit Schlagfertigkeit und emotionalen Eruptionen, auf die das Publikum im Laufe der beinahe 13 Jahre immer mehr hinfieberte.
Bestseller-Autor mit „Mein Leben“
Sein Temperament, seine Entschlusskraft und und die Freude an Schwarz-Weiß-Urteilen machten ihn zum idealen TV-Entertainer, der Geist und Witz in einem verkörperte. Bei alledem hielt er fest an Maßstäben: Seine Polterrede, als er bei der Verleihung des Deutschen Fernsehpreises die Annahme verweigerte und gegen die zunehmende Verblödung des Fernsehens wetterte, wurde legendär.
Dabei blieb ihm selbst komplexe, exzentrische Literatur stets fremd. Reich-Ranicki unterschied sich von seinen Kollegen wohl am meisten dadurch, dass er ein Gespür für die Bedürfnisse des Publikums hatte. Dem kam er mit einem von ihm herausgegebenen Kanon ebenso entgegen wie mit der „Frankfurter Anthologie“, in der jedem abgedruckten Gedicht eine Erläuterung von kundiger Hand zur Seite gestellt wurde.
Marcel Reich-Ranicki galt als scharfzüngiger Literaturkritiker, musste selbst aber auch verbale Hiebe einstecken. Zitate von ihm und über ihn:
Über Literatur: "Viele Autoren und Kritiker hegen ein Misstrauen gegen unterhaltsame Literatur. Ich sage stattdessen: Literatur darf nicht nur unterhaltsam sein, sie muss es sogar!" (im "Focus", 2010)
Ohne Eitelkeit gibt es kein Schreiben. Egal, ob Autor oder Kritiker - Eitelkeit muss dabei sein. Sonst entsteht nichts. Thomas Mann war wahnsinnig eitel, Richard Wagner auch, und Goethe und natürlich Schiller. (in "Die Weltwoche", 2009)
Über Schriftsteller: "Manchmal ist eine Schreibblockade für die Leser ein Segen, das wollen wir nicht vergessen." (im "Literarischen Quartett" am 15. Dezember 1994)
"Seine letzten Bücher sind so misslungen, dass er jetzt kaum noch Chancen auf den Nobelpreis hat." (vor der Vergabe des Nobelpreises an Günter Grass, 1997)
"Wenn ein deutscher Schriftsteller ihn erhalten sollte, und dies habe ich schon vor Jahren immer wieder gesagt, dann ist Grass der Richtige gewesen." (zur Vergabe des Nobelpreises an Günter Grass, 1999)
"Er verübelt Juden, dass sie überlebt haben. Das ist durchaus kein Antisemitismus, das ist schon Bestialität." (in "Die Welt" über das Buch "Tod eines Kritikers" von Martin Walser. Nach einer Klage des Schriftstellers musste Reich-Ranicki diese Äußerung von 2005 formal zurücknehmen)
Über sich selbst und seine Arbeit: "Ich habe die Entscheidung nie bedauert, mich in diesem Land niederzulassen." (bei der Verleihung des Großen Verdienstkreuzes mit Stern, 2002)
"Die Angst vor der deutschen Barbarei, das habe ich auch in meiner Autobiografie geschrieben, hat mich ein Leben lang begleitet." (in "Frankfurter Allgemeine", 2009)
"Aufrichtigkeit ist die erste Pflicht des Kritikers." (in der Talkshow "Menschen bei Maischberger", 2004)
"Jede Kritik, die es verdient, eine Kritik genannt zu werden, ist auch eine Polemik."
"Der Kritiker ist kein Richter, er ist der Staatsanwalt oder der Verteidiger."
Andere über Marcel Reich-Ranicki: "Wir haben ja zwei polnische Päpste. Der eine, in Rom, meint unfehlbar in Fragen sexueller Praxis zu sein. Ich habe da meine Zweifel. Der andere, in Frankfurt, meint unfehlbar im Urteil über Literatur zu sein. Auch da habe ich meine Zweifel." (Günter Grass, 1995)
"Liest der Mann nicht, oder ist er dumm?" (Erich Loest nach der Behauptung Reich-Ranickis, in Deutschland gebe es seit 30 Jahren keine politische Literatur, 1997)
"Reich-Ranicki ist ein begnadeter bis peinigender Polterer, der eine ungeheure verbale Gewalt ausüben kann." (Hellmuth Karasek im "Stern", 2000)
"Wir Autoren nehmen Reich-Ranicki als Kritiker nicht mehr ernst, aber wir fürchten seine Macht." (Ulla Hahn zur Kritik Reich-Ranickis an ihrem Buch "Das verborgene Wort", 2001)
"Die Fehde der großen alten Männer ist vielleicht die letzte finale Fehde einer untergehenden Generation." (Norbert Kron in "Die Welt" zum Konflikt zwischen Reich-Ranicki und Walser, 2002)
"Ich spüre ein Recht darauf, diesen Menschen ein für alle Mal zu hassen!" (Martin Walser im Rahmen der lit.Cologne in Köln, März 2010)
"Wenn sich Deutschland heute noch als Kulturnation begreifen kann, dann haben Sie daran ein großes Verdienst - ja, Sie verkörpern auf Ihre Art diese Kulturnation." (Bundespräsident Horst Köhler zum 85. Geburtstag Reich-Ranickis, 2005)
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