Essen. . Der israelische Autor Lavie Tidhar überrascht uns mit einem außergewöhnlichen Thriller: “Osama“ arbeitet mit zahllosen Anspielungen und Vexier-Momenten. Und der Al-Kaida-Chef ist darin nur die Erfindung einer Groschenheft-Serie. Das eigenwillige und stilistisch raffinierte Buch hat Tidhar den World Fantasy Award 2012 eingebracht.
Die Journalisten sollen nur schreiben, was „wirklich“ passiert ist – meinte vor zweitausend Jahren schon ein Philosoph (er sagte: „die Geschichtsschreiber“). Alles was nur „möglich“ oder auch unmöglich ist, dürften sich die Dichter ausdenken. – Ja wenn das so einfach wäre!
Nehmen wir nur mal Osama bin Laden. Keiner zweifelt, dass er hinter vielen blutigen Terroranschlägen mit Tausenden von Opfern steckte. Aber was wissen wir „wirklich“? Auf verwackelten Videos wirkte der Alte mit langem Bart und orientalischer Tracht bestenfalls wie ein Schurke aus einem Karl-May-Film. Und: Zu perfekt um wahr zu sein war jenes Foto, auf dem Hilary und Barack dem Topterroristen beim Sterben zusahen: ein Gruppenbild wie von Rembrandt. Da könnten wir mit einem anderen Philosophen fragen: Was haben wir gesehen? Was sollen wir glauben? Was dürfen wir wissen?
Vertauschung des ‚Wirklichen’ und des ‚Möglichen’
Aus solchen Zweifeln hat sich der israelische Autor Lavie Tidhar mit einem wahren Salto befreit oder vielmehr: Er hat sie zu einem sehr ungewöhnlichen Thriller verarbeitet. Sein Trick besteht in der konsequenten Vertauschung des ‚Wirklichen’ und des ‚Möglichen’. Die tödlichen Anschläge von der US-Botschaft in Nairobi über das World Trade Center bis zur Londoner U-Bahn, im Buch kurz in Erinnerung gerufen, und damit auch ihr Mastermind „Osama“ geschehen bei Tidhar nur in der Groschenromanserie „Der Vergelter“, die ein gewisser Mike Longshott verfasst. Um den zu finden, muss der heruntergekommene Privatdetektiv Joe um die halbe Welt reisen, nach Paris, London, New York und Kabul. Doch diese Welt und ‚Wirklichkeit’ – bis zu den Prügeln, die er regelmäßig einsteckt – besteht fast nur aus Zitaten, also aus Kunst. So betritt Joe eine Bar und wird vom Chef begrüßt. „’Ich bin Rick“, sagte der Mann. Er trug ein weißes Abendsakko und rauchte.’“
Auch interessant
„Casablanca“ also, überhaupt viel Humphrey Bogart und Raymond Chandler, auch Graham Greene, ein wenig Paul Auster – wer sich auskennt, hat Spaß genug beim Enträtseln. Man kann sich aber auch schnell verloren fühlen in diesem Spiegelkabinett, so wie Joe selbst, als er Longshott endlich gegenüber sitzt und eine letzte Überraschung erlebt. Die kennen wir freilich – Stichwort Doppelgänger! – auch schon längst aus der Romantik.
World Fantasy Award 2012
Das eigenwillige und stilistisch raffinierte Buch, auf Englisch verfasst, hat Lavie Tidhar den World Fantasy Award 2012 eingetragen – was zumindest belegt, dass es in dieser Sparte nicht immer nur um Zauberlehrlinge, Vampire und ihren weiblichen Anhang gehen muss. Aber auch dem Kriminalroman, der allzu oft im sozialkritischen Realismus oder in regionaler Spaßigkeit dahindümpelt, können solche Experimente nur gut tun.
Lavie Tidhar: Osama. Roman. Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller. Rogner & Bernhard, 302 S., 24,95 €.