Essen. Dan Browns neuer Thriller „Inferno“ führt über historische Höllenvisionen zu zukünftigen Apokalypsen – und von Florenz via Venedig nach Istanbul. Dabei spielt Brown gekonnt mit Selbstzitaten und Versatzstücken des Genres. Das Buch überrascht mit spannenden Wendungen.
Robert Langdon, der immer alles weiß, weiß gar nichts mehr. Mit dieser netten kleinen Ironie beginnt der vierte Thriller um den kombinationsfreudigen Kunsthistoriker: Schnitzeljäger Langdon wacht in einer Klinik in Florenz auf – und kann sich nicht erinnern, was ihm in den letzten beiden Tagen wiederfahren ist. Eine Pointe, der weitere überraschende Wendungen folgen.
„Inferno“ heißt Dan Browns neuester Streich. Sorgfältig orchestrierten die Verlage in der Nacht zu Dienstag im jeweiligen Heimatland die Veröffentlichung. Deutsche Pressevertreter erhielten kurz nach Mitternacht eine elektronische Version, um neun Uhr morgens per Kurier das Buch: 688 Seiten, das macht gute vier Stunden spannende Unterhaltung.
Fragwürdiges Vermächtnis
Wieder jagt Langdon in Begleitung einer jungen Frau – diesmal: Ärztin Sienna Brooks – durch Kirchen und Museen. War es bisher die katholische Kirche und ihre Geschichte, die es Brown angetan hatte, ist nun Dantes „Göttliche Komödie“ die Folie fürs Rätseln – und die weltweite Überbevölkerung sein eigentliches Thema.
Zu Beginn stirbt ein Mann, der der Welt ein fragwürdiges Vermächtnis hinterlassen hat: „Mein Geschenk ist die Zukunft. Mein Geschenk ist die Erlösung. Mein Geschenk ist ... Inferno.“ Schnell wird klar: Langdon war ihm bereits auf der Spur, als er sein Gedächtnis verlor; eine feine Anspielung auf die Tatsache, dass jeder Langdon-Thriller ein Selbst-Zitat des schon Dagewesenen ist. Offenbar geht es dem Mann darum, die Menschen vor sich selbst zu retten – allerdings auf äußerst radikale Weise.
Sandro Botticellis Gemälde „La Mappa dell’Inferno“ führt Langdon zu Dante Alighieris „Göttlicher Komödie“. Dantes Höllen- sind Zukunftsvisionen in den Augen des geheimnisvollen Wissenschaftlers: Unausweichlich, wenn die Menschheit so rasch weiterwächst.
Durch Florenz auf Dantes Spuren
Langdon, diesmal im Brioni-Anzug statt im Tweed-Jacket, jagt mit der schönen Sienna durch Florenz auf Dantes Spuren: durch den Boboli-Garten und den Vasari-Korridor bis zum Palazzo Vecchio, von dort zur Taufkapelle am Dom — eine nette Route für künftige Dan-Brown-Führungen durch Florenz. Später geht es noch nach Venedig und Istanbul.
Doch waren es in früheren Büchern oft reale, nachprüfbare Kleinigkeiten in bedeutenden Kunstschätzen, die Langdon den Weg wiesen, so bedient Brown sich diesmal auch nachträglicher Ergänzungen.
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Und so sehr er sich auch bemüht, Dantes Komödie als wichtigste Schrift „gleich nach der Bibel“ zu rühmen, mittelalterliche Höllenängste und Pest-Katastrophen lebendig werden zu lassen – diesmal spielt die Historie eine nur geringe Rolle. Gut so: Die von Geheimbünden raunende Rückwärtsgewandheit hatte schon im „Verlorenen Symbol“ nicht mehr so richtig gezündet.
Charaktere sind vielschichtig
Nun ist der Geheimbund ein „Konsortium“, das den Wissenschaftler und seine tödlichen Forschungen beschützt. Jedenfalls zunächst. Es gehört zu den großen Stärken dieses Buches, dass zwar der Spannungsaufbau in gewohnt übersichtlichen Schachbrett-Zügen verläuft, die Figuren aber keineswegs schwarzweiß gezeichnet sind und ihre eigentlichen Motive und Funktionen lange verborgen bleiben.
So schlägt Brown am Ende zwei, drei Haken, die man ihm kaum zugetraut hätte, lassen sie doch ganze Szenen in einem neuen Licht erscheinen. Und selbst die Apokalypse, die Langdon und auch seine Mitstreiter von der Weltgesundheitsorganisation so verzweifelt zu verhindern suchten, trägt am Ende ein anderes Gesicht als erwartet.
Brown ist es gelungen, das Prinzip der Doppelbödigkeit, das den kunsthistorischen Schnitzeljagden seines Helden zugrunde lag, auf das eigene Werk zu übertragen: „Inferno“ ist ein spannender Thriller, der souverän mit den Versatzstücken des Genres spielt.
Dan Brown: Inferno. Lübbe, 688 Seiten, 26 €