Recklinghausen. . „Aufbruch und Utopie“ lautet das Motto der diesjährigen Ruhrfestspiele. Da kommt ein Stück wie „Gas I & II“ gerade recht. Der von Georg Kaiser geschriebene Science-Fiction-Stoff wurde vor 95 Jahren zu Papier gebracht. Regisseur Hansgünther Heime hat versucht, ihm Leben einzuhauchen.

„Zurechtgedachtes wird immer vom Lebendigen zerkrümelt.“ Das erkannte Oskar Maria Graf (der mit dem flammenden 1933er Appell „Verbrennt mich!“) – und genau so erging es dem Werk seines Zeitgenossen Georg Kaiser. Dieser hoch verschuldete Vielschreiber hinterließ 74 Dramen, doch für fast alle gilt: zu zurechtgedacht.

Einen Anspruch immerhin erfüllt „Gas I & II“, diese 95 Jahre alte Science-Fiction für die Bühne: Das Doppel-Werk entspricht genau dem Slogan der 2013er Ruhrfestspiele an „Aufbruch und Utopie“ – inklusive eines Rückblicks auf die eigene Festival-Historie. Denn Regie führt in dieser Koproduktion mit dem Badischen Staatstheater Karlsruhe der 78-jährige Hansgünther Heyme, von 1990 bis 2003 prägender Intendant der Ruhrfestspiele.

Regisseur Heyme verweigert sich allen Mätzchen

Dramatischer als in „Gas I“ kann’s nicht zugehen – sollte man meinen. Eine gewaltige Gas-Fabrik, bei Georg Kaiser der Energie-Weltversorger, explodiert. Doch dieses Geschehen ist, ganz theatralisch-antik, nur Erzählung. Heyme verweigert sich konsequent allen (video)technischen Mätzchen, um die Katastrophe auch optisch aufzucken zu lassen. Er verweigert sich auch einigen Steilvorlagen des unfreiwilligen Humors, auf die sich jüngere Kaiser-Regisseure (wenn es sie denn gäbe) wohl mit Hingabe stürzen würden.

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So krault denn Andrej Kaminski als namenloser Fabrikbesitzer gedankenvoll seinen Prophetenbart – und agiert nach dem Untergang seines Werkes wie ein Vordenker des Morgenthau-Plans: Auf dem Schutt soll eine Kolonie von Selbstversorgern siedeln. Mit dem Schreckenswort „Bauern“ überzeugt der bleiche Ingenieur (Jan Andreesen) die Arbeiterschaft: Erst hatten sie seine Entlassung gefordert, jetzt wollen sie mit ihm das Werk wieder aufbauen.

"Gas II" springt 30 Jahre in die Zukunft

Bis zu diesem dramatischen Wandel ist’s ein langes, ödes Verhandeln des (nicht gezeigten, nur beredeten) Geschehens. Erst mit den Auftritten der klagenden Arbeiterfrauen findet Georg Kaisers Sprache jene Kraft und opernhafte Expressivität, die Bert Brecht an dem 20 Jahre älteren Vorbild als „visionär“ bewunderte.

„Gas II“ bietet zum Glück viel mehr davon. Die Handlung macht einen Sprung von 30 Jahren: Die wieder erbaute Fabrik dient der Kriegsmaschinerie. Jan Andreesen gibt jetzt den „Milliardärarbeiter“ (ein Begriff für die Geschichtsbücher!), jenen Enkel des Fabrikgründers, der sich bei den Arbeitern einreihte. Das Gas wird als Gift missbraucht. Das Drama – nun im befremdlich-bunten Look von François Truffauts Sci-Fi-Versuch „Fahrenheit 451“ – endet als Apokalypse. Tapferer Applaus im nicht ganz ausverkauften Kleinen Theater.