Recklinghausen. . Erneut bespielt das Deutsche Literaturarchiv Marbach das Festspielhaus: „Finden: 1913“ führt mit Tucholsky, Hesse und Schnitzler durch das Vorkriegsjahr.

„Es wird nicht gehängt, nicht vergoldet“, sagt Franz Peschke. Wie improvisiert lehnen die hohen Tafeln mit Texten und Bild-Reproduktionen an den Wänden des Rangfoyers. „Ungewöhnlich schön“ nennt der künstlerische Berater der Ruhrfestspiele diese zweite Zusammenarbeit mit dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach.

Schatzkammer für Millionen Blätter

50 Millionen Einzelblätter bewahrt – größtenteils unterirdisch – der in einen Hang über dem Neckar platzierte Bau von David Chipperfield, dem Architekten des neuen Folkwang-Museums. In Schillers Geburtsstadt leitet Dr. Heike Gfrereis eine führende Institution der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, die neben fragilen Handschriften bei konstant „18 Grad, 50 Lux“ im pointiert beleuchteten Halbdunkel auch Thomas Manns Taufkleidchen und Schillers Schnallenschuhe konservatorisch korrekt präsentiert.

Man erwarte also keine Original-Exponate im Rangfoyer. Schließlich war auch die erste Ausstellung von Dr. Gfrereis in Recklinghausen – „Räuber sein!“ – ein Experiment für Mitmach-Mutige, die sich trauten, im Rhythmus des „Sturm und Drang“ zu atmen, Mimik, Gestik und Stimme zu trainieren.

„Finden: 1913“, so der Titel der aktuellen Schau vor dem Theaterbesuch, ist da konventioneller. Das Prinzip gleicht der Collage-Technik von Florian Illies’ überraschendem Bestseller „1913“: als streng kalendarisch gegliederter Gang durch das letzte Jahr vor den Grabenkämpfen des Ersten Weltkriegs.

Allerdings machte das Team um die Marbacher Archiv- und Museumsleiterin – an ihrer Seite als Co-Kuratorin Ellen Strittmatter und als Gestalter Diethard Keppler – noch ganz andere Entdeckungen als der Autor des einst so trendigen „Generation Golf“-Buches. Zu den Fundsachen des Marbacher Trios zählt (am 9. Januar) „Kurt Tucholsky lässt sich fotografieren“. Der spätere „Theobald Tiger“ und Pseudonyme-Jongleur war 1913 noch unentschlossen zwischen Feuilleton und der Promotion als Jurist. Und seine Widmung auf dem Foto zitiert „Heidedichter“ Hermann Löns: „Es braucht kein Mensch zu wissen, dass ich dein Liebster bin.“

Im nasskalten Sommer 1913 (eine Fundsache vom 2. Juli) ging Hermann Hesse, 13 Jahre älter als „Tucho“, mit seinem Verleger Samuel Fischer im teils noch verschneiten Engadin auf Wanderschaft. Der längst als zuverlässig skandalöser Dramatiker arrivierte Arthur Schnitzler traf’s besser: Er spielte (am 24. August) Tennis auf der Adria-Insel Brioni, damals die Küste von Österreich.

Und das Verhängnis? Ahnte es niemand? Am 12. Dezember las Heinrich Mann in der Münchner Galerie Caspari aus einem unvollendeten Roman: „Der Untertan“ sollte erst 1918 erscheinen. Thomas Manns älterer Bruder traf den Ungeist der Zeit so genau, dass sein Werk vier Jahre von der Kriegszensur verboten blieb.