Frankfurt am Main. Die Frankfurter Buchmesse feiert die wahren Geschichten, die das Leben schrieb. Nicht nur die von Ursula Krechel über den nach Deutschland zurückgekehrten jüdischen Direktor am Mainzer „Landgericht“, sondern auch die von Helmut Kohl, Salman Rushdie, Rod Stewart, Lothar Matthäus und vielen anderen.
Die beiden großen Stars dieses ersten Frankfurter Buchmessentages haben auf den ersten Blick nichts gemeinsam. Arnold Schwarzenegger stürzt sich ins Getümmel der Leser, um seine Autobiografie vorzustellen. Ursula Krechel spricht auf dieser und jener umlagerten Bühne über ihren Roman „Landgericht“, der den Deutschen Buchpreis gewonnen hat. Dennoch spiegeln Promi-Buch und geweihte Hochliteratur denselben Trend: die Sehnsucht nach den wahren Geschichten, den wirklichen Helden.
Rod Stewarts Erinnerungen, Lothar Matthäus' Lebensbeichte
Am Morgen, kurz nach neun, sind die Messestände noch fast leer. Da bleibt der Blick hängen an den Bücherwänden – und den riesigen Gesichts-Plakaten dazwischen: Lauter Menschen, die vom eigenen Leben erzählen. Oder erzählen lassen. Die gewichtige Helmut-Kohl-Biografie springt ins Auge, Rod Stewarts Erinnerungen, Lothar Matthäus’ Lebensbeichte oder Christian Thielemann, der „Mein Leben mit Wagner“ erzählt. Dazwischen Salman Rushdie, der mit „Joseph Anton“ die eigene Biografie schrieb – sein bisher bestes Buch, wie viele meinen. „Spiegel“-Kritiker Georg Diez führt in einem Essay neben Rushdie eine Reihe von Autoren an, die sich den Geschichten aus dem echten Leben zugewandt haben und so der Literatur vormachen, was sie versäumt: „Die meisten Romane“, schreibt Diez, „rücken die Welt weg“.
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Ursula Krechel aber holt sie heran. Sie erzählt eine wahre Geschichte. Die Idee zum Roman „Landgericht“ entstand, erzählt Krechel, als ihr ein Dokument von „schneidender Intelligenz“ in die Hände fiel, geschrieben von einem Landgerichtsdirektor aus Mainz. Der 1903 geborene Jurist Richard Kornitzer (der im echten Leben anders hieß) wurde 1933 des Amtes enthoben, weil er Jude war. 1939 entschieden er und seine „arische“ Frau Claire, die beiden kleinen Kinder nach England zu schicken, kurz darauf floh Kornitzer nach Kuba. 1948 kam er zurück nach Deutschland. Hier setzt Krechel ein, die bereits in ihrem Roman „Shanghai fern von wo“ (2008) das Schicksal jüdischer Emigranten schilderte. Akribisch zeichnet sie nach, wie Kornitzer darum kämpft, in Deutschland wieder Fuß zu fassen, und in diesem Kampf übers Ziel hinausschießt. Es habe sie dabei vor allem der Weg vom „Im-Recht-Sein zum Recht haben und weiter zur Rechthaberei“ interessiert, sagt Krechel.
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Krechel: Mit Fleiß und moralischem Anspruch
Nicht ganz zu Unrecht wurde der Autorin der Vorwurf gemacht, sich allzu sehr an die Akten zu klammern. Das Emotionale scheint sie weniger zu interessieren. Über ihren Helden Kornitzer heißt es einmal im Roman: „Am Abend im Bunker unter dem Licht der Seidenschirmlämpchen kam ihm sein Leben wie ausgedacht vor. Als hätte er gar keinen Charakter und kein Leben.“ Man mag Krechel, angesichts der historischen Dimension ihres Themas, diesen mangelnden literarischen Wagemut verzeihen. Sie hat sich den Buchpreis mit Fleiß und moralischem Anspruch verdient. Allerdings gab es in diesem Jahr ein Buch, dem ebenfalls eine reale Biografie zugrundelag – und in dem es seinem Autor Rainald Goetz gelang, durch den freien, spielerischen Umgang mit der Vorlage Mitfühlen zu ermöglichen. „Johann Holtrop“ soll vielleicht Thomas Middelhoff sein, eigentlich aber sind wir alle ein bisschen Holtrop. Hier erzählt ein Roman, der das echte Leben zu echter Literatur werden lässt, von unserem eigenen Leben – genau darin liegt die wahre Kunst und die wahre Kraft von Literatur.