Essen. Sein neues Album „Tempest“: Geisterzüge, Gespenster und die Titanic beim Absaufen – eine lange Reise von über 70 Minuten. His Bobness wendet sich wieder verstärkt seinen Folk-Wurzeln zu. Und es gibt gute Aussichten, dass es doch nicht sein letztes bleiben wird.

Da liegt es, das 35. Studioalbum vom Versschmied Bob Dylan, schmucklos wie immer. Zumindest die Titel der zehn Stücke auf „Tempest“ werden preisgegeben, und da ist noch ein Bild der altbewährten Kämpen, die zum Teil schon sehr lange für den Meister musizieren. Sonst nichts. Schon gar keine Texte. Dylan will erst einmal, dass man ihm zuhört, wenn er mit seiner vertrauten Krächzstimme loslegt. Der Zuhörer sollte sich auf eine lange (fast 70 Minuten währende) und düstere Reise gefasst machen.

Schon der erste Song „Duquesne Whistle“ zeigt Dylan wieder sehr stark an Folklore-Motiven interessiert. Ein halbes Jahrhundert nach Erscheinen seines ersten Albums bekommen wir also ein Stück vom alten Folkie zurück. Hier sitzt er in einem Geisterzug, der pfeift, als wolle er die Welt wegblasen. Und oben aus dem Himmelstor schaut die Mutter des Herrn hervor. Die Musik ist hier noch am Tempo des Zuges orientiert, später wird sie sich oft auf reine Zweckmäßigkeit zurückziehen, wird sich einen Stil suchen und die gefundenen Muster strophenweise wiederholen.

Bob Dylan interessiert Aktualität überhaupt nicht

Die Dunkelheit rückt näher. Im spukigen „Soon After Midnight“ legt Dylan Liebesschwüre für eine Leiche ab. Zu einem schweren Blues, der noch schwerer nach Muddy Waters klingt, bürstet er in „Early Roman Kings“ Banker und Politiker, deren Sport es offenbar ist, Städte wie Menschen zu zerstören. Doch dann sind wir gleich wieder beim Folk: „Scarlet Town“ orientiert sich an der finsteren Ballade von „Barbara Allen“, das neunminütige „Tin Angel“ breitet blutiges Geschehen nach altenglischer Art als Folge fataler Eifersucht aus.

Der Höhepunkt allerdings dämmert mit dem Titelstück herauf. In „Tempest“ mit seinen 14 Minuten macht Dylan deutlich, dass ihn Aktualität überhaupt nicht interessiert. In wunderbar kleinen Charakter-Vignetten und fast atemlos, ohne Refrain, lässt er noch einmal die „Titanic“ untergehen, während die Band mit ihren Walzertupfern wie das schiffseigene Salonorchester klingt.

Persönliches zu John Lennon

„Tempest“ ist das vorletzte Stück dieses Albums, kann es danach tatsächlich noch etwas geben? Dylan schenkt uns mit dem wieder ganz nach Traditional schmeckenden „Roll on John“ sehr überraschend seinen ganz persönlichen Abschied von John Lennon. „I read the news today, oh boy“ zitiert er traurig die erste Zeile des Beatles-Titels „A Day in the Life“. Das Wiegenlied, das hier aufscheinen will, bringt genau die Entschleunigung, die der Zuhörer nach einer Stunde braucht.

Ob es denn wohl sein letztes Album sei, ist der 71-jährige Dylan schon gefragt worden. Weil „The Tempest“ ja auch Shakespeares Schwanengesang war. Man möge das nicht verwechseln, soll da der betagte Liedermacher gesagt haben. „Tempest“ und „The Tempest“ seien schließlich ganz verschiedene Titel. Nach dem Genuss des neuen Albums ist es schön, doch noch Hoffnung haben zu dürfen.